Abtprimas Dr. Notker Wolf OSB

Religiöse Sinngebung in einer zunehmend säkularisierten Welt

   

Christliche Verantwortungsträger, besonders Pastoraltheologen, zerbrechen sich die Köpfe, wie in einer zunehmend säkularisierten Welt die christliche Botschaft in unserer Gesellschaft überzeugend eingebracht werden kann. Es geht primär nicht um den Selbsterhalt der Kirchen, die christliche Botschaft versteht sich als Heilsbotschaft für den Menschen und als Orientierung für unser tägliches Leben. Es geht um die Zukunft unserer Gesellschaft. Und doch wenden sich immer mehr Menschen von den Kirchen ab. Nach hohem sozialem und politischem Engagement von Pfarrern und kirchlichen Institutionen in den vergangenen Jahrzehnten werfen nachdenkliche, ernst zu nehmende Menschen den Kirchen, vor allem den protestantischen, vor, ihr Spezifikum, die Glaubensbotschaft vergessen, wenn nicht gar verraten zu haben. Die Kirchen müssten sich wieder auf ihren eigentlichen Kern, die Verkündigung der frohen Botschaft, besinnen, und damit wieder eine klare Identität innerhalb der Gesellschaft zeigen.

Andererseits werden religiöse Symbole unter dem Vorwand der Toleranz und der politischen Indifferenz aus dem öffentlichen Leben verbannt. Religionen können aber als Sinnstifter und Orientierungsorte des Lebens nicht mehr wahrgenommen werden, wenn ihre Symbole, die einen Teil ihrer Sichtbarkeit ausmachen, nicht mehr gezeigt werden dürfen. Wenn ein christlicher Politiker heute allzu deutliche seine persönliche Glaubensüberzeugung an den Tag legt, wird er für einen hohen Verantwortungsposten innerhalb der EU nicht mehr für tauglich gehalten. Religionen als Sinn vermittelnde Instanzen werden offenbar abgelehnt. Allgemeinverbindlichkeit religiöser Normen scheint der Toleranzforderung zu widersprechen.

Während in der abendländischen Tradition die Werteorientierung von den christlichen Kirchen vorgegeben wurde, suchen sich Gruppierungen unserer Gesellschaft ihre eigenen ethischen Normen. Es wird auf die öffentliche Meinung Bezug genommen. Wer aber erzeugt oder bestimmt die öffentliche Meinung? Die Bedeutung der Kanzeln der Kirchen ist längst abgelöst worden durch die Medien. Zeitungskommentare und Talkshows bilden heute die öffentliche Meinung bzw. Journalisten und Talkmaster. Rudolf Augstein hatte einen hohen Einfluß auf die Meinung gebildeter Menschen, die Zeitschrift ¿Bravo¿ war maßgebend für das veränderte Sexualverhalten vieler Jugendlicher. Die Talkmaster selektionieren ihre Themen und Teilnehmer. Politiker machen ihre Meinungen in neuen Gesetzen verbindlich. Das bedeutet noch nicht von vorneherein Willkür. Die Gesetze und die darin ausgedrückten Werte sind durch mehrheitliche demokratische Abstimmungen legitimiert. Werte wie das Recht auf individuelle Entfaltung, Meinungsfreiheit und Toleranz, demokratische Entscheidung in politischen Fragen werden als europäische Werte deklariert, die es zu schützen gilt, notfalls auch militärisch wie im Kosovo-Einsatz. Eines scheint aber bei uns heute eine unausgesprochene Denkbasis zu sein: Wir geben uns die ethischen Werte selbst vor. Wir selber bestimmen die Qualität unseres Handelns. Der säkularisierte Mensch hat sich von der Transzendenz und transzendenten Vorgaben gelöst. Religion wird in den Bereich privater Anschauung abgedrängt und soll die öffentliche Meinung nicht stören. Religion soll für das öffentliche Leben keine normative Bedeutung mehr haben. Es gilt die säkularisierte Weltanschauung der religiösen Indifferenz.

Bei der Schlussfassung des Verfassungsvertrags für Europa wurde bewusst auf den Gottesbezug verzichtet. Giscard D¿Estaing verstand es als Trennung von Staat und Kirche. Allein die Achtung vor der Vernunft sollte das gemeinsam verbindende Element sein. Mitten hinein in diese aufgeklärte Grundstimmung platzen nun die erschütternden Nachrichten aus Holland, die jeder Vernunft widersprechen. Es sind nicht Terroristen, die aus dem Ausland kommen, sondern Menschen, die in dem modernen, liberalen und aufgeklärten Holland aufgewachsen sind. Und es sind nicht nur Muslime, sondern auch andere, welche nun Moscheen, Schulen und Kirchen in Brand setzten. Ein religiöser Mensch wendet sich gegen die vermeintliche Verunglimpfung seines Glaubens. Man mag ihn noch einen Fanatiker nennen; aber die andern Reaktionen entbehren nicht minder der Irrationalität. Auch sie fühlen sich offenbar verletzt. Vielleicht ist unter der aufgeklärten Decke doch mehr an religiösem Empfinden, positiv wie negativ, vorhanden, als wir wahrhaben wollen.

Mehrfach wurde in der Neuzeit das Ende der Religion eingeläutet unter dem Namen der Vernunft oder der Wissenschaft, zuletzt in den kommunistischen Staaten. Wo es nicht von selber ging, versuchte man die Religion mit Gewalt auszumerzen. Dass das nicht gelang, beweist das Wiederaufleben der orthodoxen Kirchen im Osten Europas. In der Volksrepublik China hat die Zahl der Christen während der Verfolgungsjahre sogar zugenommen. Die Falun-Gong-Sekte konnte in jüngerer Zeit unbemerkt von der Regierung in rascher Zeit Zig-Millionen Anhänger gewinnen, sogar innerhalb der Partei und des Militär. Die Religionen machen sich allenthalben heute deutlicher bemerkbar als noch vor einigen Jahrzehnten. Religion ist ein wesentlicher Faktor der verschiedenen Kulturen dieser Welt, in ihnen manifestiert sich häufig nationales oder kulturelles Selbstbewusstsein. Die Aufklärung ist ein Phänomen der europäischen Geistesgeschichte und unterscheidet auch die europäische und amerikanische Mentalität. In den USA bekennen sich Politiker in einer für uns manchmal befremdenden Art zu ihrem Glauben. In den übrigen Teilen dieser Welt mögen zwar der Konsumverhalten und praktischer Materialismus um sich greifen, das besagt aber noch lange nicht, dass die Aufklärung nun auch dort Fuß fassen würde. Die Menschen holen sich ihr Sinnverständnis immer noch aus ihren Religionen.

Wenn wir also von der Frage sprechen, wie eine religiöse Sinngebung in einer säkularisierten Welt möglich ist, so müssen wir bedenken, dass das in erster Linie Europa betrifft, und es wäre eine Hybris, Europa zum Maß aller Dinge machen zu wollen. Dabei ist selbst Europa so unreligiös nicht, wie es scheinen mag. Viele Menschen bezeichnen sich durchaus als gläubig, selbst wenn sie keine feste Kirchenbindung mehr aufweisen. Sie sehen in den Kirchen Machtinstitutionen, sie sehen sich bevormundet durch kirchliche Dogmen und moralische Vorschriften, aber sie wollen religiös sein, sie beten und meditieren. Viele suchen ein spirituelles Leben und glauben, es eher in den Methoden fernöstlicher Religionen zu finden. Man bedient sich nach eigenem Belieben der verschiedenen religiösen Angebote, die sich heute auf dem Markt finden. Manches hat vielleicht nur entfernt etwas mit Religion zu tun wie die Esoterik oder gerät in die Nähe dessen, was wir früher mit ¿Aberglauben¿ bezeichnet hätten. Der Übergang von religiöser Stimmung zur mentalen und körperlichen Wellness ist fließend. Religion droht sich in Wellness aufzulösen. Das Christentum hat ausgedient, es wirkt zu spröde, wenngleich es für die Gefühlswelt viel hergeben kann. Fernöstliche Meditationen kommen dem modernen Bedürfnis nach Selbstverwirklichung entgegen, während das Evangelium verkündet: ¿Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen¿ (vgl. Mt 10,39; Mk 2,35; Lk 17,33; Jo 12,25). Dabei sind weder Hinduismus noch Buddhismus dazu angetan, dem Menschen zu einer persönlichen Selbstverwirklichung in westlichem Sinne zu verhelfen. Es gilt, sich in den Kreislauf des Kosmos zu entäußern, sich zu entpersönlichen in das große Ganze hinein, während gemäß der christlichen Botschaft der einzelne Mensch durch Gott zu seiner vollen Gestalt gelangen soll.

Es stellt sich bei dem religiösen Suchen des heutigen Menschen die Frage, ob nicht auch hier der Hang zu Individualismus und Egoismus durchschlägt. Man will sich nichts mehr vorgeben lassen, sondern alles selbst bestimmen. Religion soll auch nicht mehr den Menschen in die Pflicht nehmen, das religiöse Feeling tritt in den Vordergrund. Innerhalb der Kirchen gibt es neuerdings religiöse Bewegungen, denen sich junge Menschen anschließen in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit, wie in der Zeit der Hippies viele zu Bhagwanjünger wurden. All diesen mehr oder weniger religiösen "Rauchzeichen" ist gemeinsam, dass die kritische Vernunft kaum eine Rolle spielt, die sonst so hoch veranschlagt wird.

Wenden wir uns nun der religiösen Sinngebung in der in Umrissen abgesteckten säkularisierten Welt zu. Wird sie überhaupt erwünscht? Offenkundig von vielen Menschen sehr wohl, aber anders als zu früheren Zeiten. Wer kann noch Sinn vermitteln, wenn keine Autorität mehr anerkannt wird außer der eigenen? Es sei denn, es sind Menschen, die bewusst in einer verbürgten Autorität ihren Halt suchen. Wenn die Christen überzeugt sind, in Jesus Christus den Schlüssel für das Heil der Welt in der Hand zu haben, dann ist es, wie eingangs gesagt, natürlich eine Frage, wie sie ihre Botschaft überbringen. Es wird nötig sein, auf die Menschen zu hören, wo ihre religiösen Erwartungen und Sehnsüchte liegen. Martin Luther sprach davon, man müsse den Leuten aufs Maul schauen. Es bedarf derer, die ihnen ins Herz schauen. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen - ich habe das bei zahlreichen Interviews erfahren - immer noch eine Hoffnung auf die Kirchen setzen. Dort wenigstens solle es nicht so zugehen wie in der Welt. Jeder Mensch solle etwas gelten, ohne Ansehen seiner Person und seiner gesellschaftlichen Stellung (vgl. die Paulus-Briefe: Eph 6,8; Röm 2,11; Gal 3,28); er möchte ernst und für voll genommen werden; die Kirchen sollten so etwas sein wie eine machtfreie Zone innerhalb einer Welt der Ellenbogentaktik und des Mobbing. Vor allem wird Ehrlichkeit und Offenheit erwartet, notfalls auch das Eingeständnis von Schuld, alles Tugenden, die in einer Welt der Lüge selten angetroffen werden. Viele Menschen haben sehr wohl noch eine Bereitschaft zu selbstlosem, solidarischem Handeln und erwarten darin in den Kirchen ein Vorbild. Vor allem sehnen sie sich nach dem Zeugnis der barmherzigen Liebe Gottes und werden aufgebracht, wenn sie den Eindruck haben, die Kirche handle und urteile hartherzig. Kirchen haben meiner Erfahrung nach einen höheren Kredit als Umfragen wiedergeben, weil die Antworten von den Fragen bestimmt sind. Papst Johannes Paul II. wird nicht in all seinen Vorstellungen akzeptiert, aber doch weithin geachtet in seinem Einsatz für Frieden und inter-religiösen Dialog. Die Vergehen der katholischen Kirche in der Vergangenheit, wie Inquisition und Beteiligung an den Verbrechen der Kolonialherrscher, können nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Aber der Papst hat stellvertretend mehrfach das Mea Culpa gesprochen. Diesem gebrechlichen Mann gelingt es sogar, auf Weltjugendtagen Hunderttausende von jungen Menschen zu begeistern. Er vermittelt ihnen Hoffnung und den Glauben an eine Zukunft. Er verbindet sie zu einer großen Gemeinschaft. Ein ähnlicher Vermittler ist Roger Schutz, der Gründer von Taizé und geistliche Mentor einer Welt umspannenden Bewegung. Für andere sind es der Dalai Lama oder einer der zahlreichen Gurus.

Sinn, der das weltliche Dasein übersteigt, wird gesucht. Aber die Vermittlung geschieht offenbar nicht so sehr durch Unterweisung, wenngleich diese bei fernöstlichen geistlichen Meistern eine nicht unerhebliche Rolle spielt, sondern durch die Erfahrung von Personen, die einen gelungenen Lebensentwurf verkörpern. Dabei geht es nicht nur um hervorstechende bekannte Männer oder Frauen, sondern auch um gläubige Menschen, denen wir in unserem Alltag begegnen. Die Glaubwürdigkeit von Personen steht über der Glaubwürdigkeit von Lehren. Religiöser Sinn wird an Menschen festgemacht. Authentizität wird gefordert. Der Mensch fühlt sich in seiner Ganzheit angesprochen und findet in solchen Personen, das wonach er verlangt. Religiöse Sinngebung geschieht durch glaubwürdige Träger eines solchen Sinns. Es sind Menschen, die aus dem Glauben schöpfen und diesen Glauben als Lebensweisheit und Grundlage eines echt menschlichen Lebens bezeugen.

Nun gibt es aber auch einen zweiten Bereich, der weniger emotional und nicht unmittelbar existenziell besetzt ist. Es geht um die religiöse Sinnvermittlung an die Gesellschaft. Ernst Wolfgang Böckenförde hat schon in den Sechzigerjahren darauf hingewiesen, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er sich selbst nicht geben kann. Jürgen Habermas hat demgegenüber vor einiger Zeit in einem Vortrag an der Katholischen Akademie München präzisiert, dass der demokratische, freiheitliche moderne Rechtsstaat sich sehr wohl selbst seine Normen gebe. "Wenn man das demokratische Verfahren ... als eine Methode zur Erzeugung von Legitimität aus Legalität begreift, entsteht kein Geltungsdefizit, das durch "Sittlichkeit" ausgefüllt werden müsste" (Jürgen Habermas: Zur Diskussion mit Kardinal Ratzinger, in: Information Philosophie, 4, 2004, S. 8). Wenn er dann aber weiter sagt: "Von den Rechtsadressaten wird nur erwartet, dass sie bei der Wahrnehmung ihrer subjektiven Freiheiten (und Ansprüche) die gesetzlichen Grenzen nicht überschreiten" (S. 8 f.), dann fragt man sich, was einen Bürger dazu letztlich motiviert und verpflichtet. Es leuchtet zwar ein, dass ein Staat nur funktionieren kann, wenn ein Grundkonsens zu solidarischem Verhalten unter den Bürgern besteht. Aber es ist nicht nur eine Lehre der Kirche, dass der Mensch schwach und sündhaft ist, sondern Versagen und Böswilligkeit gehören zu unseren Alltagserfahrungen. Man wird den Menschen deshalb aber nicht durch eine unendliche Menge von Gesetzen und Sanktionen in Schranken halten können. Wenige werden sich noch vom Kant¿schen Imperativ leiten lassen. Wenn die Verantwortung vor einem Gott fehlt, was hindert den Menschen noch daran, soundso oft nach dem Prinzip des Sich-nicht-Erwischen-Lassens zu handeln? Das gilt für das Problem der Korruption, aber noch weiter bei der "politisch unbeherrschten Dynamik von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft" (ebd. S. 10), wo materieller Erfolg und private Interessensphären im Vordergrund stehen.

Vordringlicher wird die Frage nach einer Begründung, wo es um den Schutz des Lebens einerseits und die vielfältigen technischen Möglichkeiten geht, in die Lebensvollzüge einzugreifen, vor allem in der Genetik und der Lebensverlängerung oder der Sterbehilfe. Stehen Leben und Menschenwürde rein in der Verfügbarkeit des Menschen oder sind es nicht Leitideen, die zwar demokratisch operabel umgesetzt werden müssen, aber eben als solche vorgegeben sind, an denen sich unsere Entscheidungen zu messen haben? Mit welchem Recht beginnen wir, unbequemes Leben auszumerzen, mit welchem Recht erheben sich die Gesunden über die Kranken? Wenn der Wert des Lebens nicht mehr aus Gründen der Religion oder der Vernunft als vorgegeben hingenommen wird, leisten wir dem Hedonismus und der Spaßgesellschaft Vorschub, oder dem Recht des Stärkeren. Menschen reifen oft gerade in der Situation der Probleme und des Leids. Religion stiftet Sinn, wenn sie für eine Kultur des Lebens und nicht des Todes eintritt. Genau darin konvergieren Religion und Rechtsstaat. Religion begründet, was der Rechtsstaat als Grundwert annimmt.

Dabei geht es nicht um eine Funktionalisierung der Religion. Christentum hat sich immer schon als eine Botschaft verstanden von dem Geist, der die Welt neu gestalten soll. Christentum war immer schon mit einem Weltauftrag verknüpft und kann sich von seinem Auftrag her nicht nur auf Innerlichkeit und persönliche Spiritualität beschränken. Der religiöse Pluralismus in unserer Zeit stellt eine Herausforderung dar, eröffnet aber auch große Möglichkeiten. Frieden und Völkerverständigung kann von keiner Religion mehr allein bewerkstelligt werden. Es bedarf dazu des Dialogs zwischen den Konfessionen und der Religionen, in der gemeinsamen Verantwortung für die Gestaltung der Welt. Ein solcher Dialog ist nicht in erster Linie eine geistige, intellektuelle Auseinandersetzung, sondern eine Frage der Kooperation in gemeinsamen Anliegen. Der Dalai Lama sieht hierin eine große Chance für die zukünftige Menschheit, und Papst Johannes Paul II. erblickt darin den einzigen Weg in die Zukunft, wenngleich die katholische Kirche daran festhält, dass allein Jesus Christus diese Welt zur Vollendung führt.

Religionslosigkeit kann schon angesichts der Weltlage und der fortdauernden Bedeutung der Religionen die Lösung nicht sein. Im Namen der Vernunft sind überdies in der Säkularisation unendlich viele und wertvollste Kulturgüter zerstört worden. Dasselbe geschah in noch größerem Ausmaß während der 10-jährigen Kulturrevolution in China. Religion war immer eine Quelle für kulturelle Kreativität. Vernunft ohne Religion kann zerstörerisch wirken. Wir haben aber auch im Abendland erfahren, dass Religion ohne Vernunft den Menschen unterdrücken und vernichten kann. Das macht den Dialog mit einigen Religionen so schwierig. Ohne Vernunft sind religiösem Fanatismus Tür und Tor geöffnet. Das sehen wir am hinduistischen Fundamentalismus und noch mehr am islamischen. Ist daher ein Dialog mit diesen Religionen gar nicht möglich, weil vielleicht das Bedürfnis nach Dialog auch schon wieder ein Ergebnis der abendländischen Aufklärung ist? Die Frage muss ernsthaft gestellt werden. Viele hegen die Hoffnung, der Islam werde bei muslimischen Gläubigen im Westen eine Art Reinigung durch die Aufklärung erfahren. Der Protest französischer Moslems gegen den fundamentalistischen Terrorismus gibt solcher Hoffnung Nahrung. Die Vorfälle in den Niederlanden zeigen aber die Grenzen auf. Die Türkei gilt als säkularisierter Staat, die Religionsfreiheit für Nicht-Moslems lässt aber noch weit zu wünschen übrig. Eben da scheint ein Dialog in der Zusammenarbeit das Gegebene zu sein; denn es gibt verbindende Werte mit dem Christentum, wie beispielsweise die Familie, die Erziehung der Kinder und die gesellschaftliche Solidarität.

Abschließend möchte ich feststellen: Die christliche Heilsbotschaft als sinnstiftender Grundkonsens verliert in unseren Breitengraden an Beutung. Das religiöse Sehnen aber scheint ebenso ungebrochen fortzubestehen. Der einzelne Mensch wie auch die Gesellschaft bedürfen einer religiösen Sinngebung. Glaubwürdigen Persönlichkeiten gelingt es denn auch, religiösen Sinn zu vermitteln. Kirchen bleibt weiterhin die Aufgabe der Glaubensweitergabe und des Diskurses mit und in unserer Gesellschaft, um auf die vielfältigen Fragen eine vertretbare Antwort zu finden, selbst wenn die demokratische Abstimmung nicht immer das von den Kirchen erwünschte Ergebnis bringt. Sie sind weiterhin Orte, wo Gemeinschaft im Glauben und religiöse Sinnvermittlung beheimatet sind und erfahren werden. In ihrer gesellschaftlichen Offenheit sind sie herausgefordert, mit anderen Religionen zum Wohl der Menschen zusammen zu arbeiten und mit ihnen zu bezeugen, dass der Mensch eine Antwort auf seine Sinnfragen bekommen kann. Wie gesagt, das Phänomen der Säkularisierung unseres Denkens ist ein abendländisches Phänomen. Der Philosoph Karl Löwith hat als verbannter Jude 1941 in Japan niedergeschrieben: "Dass es mit dem Christentum dieser bürgerlich-christlichen Welt schon seit Hegel und besonders durch Marx und Kierkegaard zu Ende ist, besagt freilich nicht, dass ein Glaube, der einst die Welt überwand, mit der letzten seiner verweltlichten Gestalten hinfällig wird." (K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche (1941), Hamburg 1981, S. 415).

Der Säkularisierungsprozess des Abendlandes betrifft den politischen und wirtschaftlichen Bereich und weite Teile des Lebensalltags. Im Grunde genommen schält sich die relative Autonomie dieser Welt heraus, die auch das Christentum dieser Welt zugesteht. Das Christentum selbst hat die Säkularisierung eingeleitet, indem es diese Welt als Schöpfung definiert und sei von allen Göttern und Geistern entzaubert hat. "Relativ" aber heißt "bezogen auf ein anderes," auf einen Urgrund, der diese Autonomie freisetzt, und ein Ziel, auf das der Mensch bezogen ist, um zu seiner Erfüllung zu gelangen. Viele Menschen unserer säkularisierten Gesellschaft suchen einen Sinn; aber entsprechend dem individuellen Freiheitsbedürfnis wird er nur da akzeptiert, wo Sinn ohne Macht und Zwang vermittelt und erfahren wird. Religion hat auch in unseren Breitengraden Zukunft. Selbst Autorität wird akzeptiert, wenn sei Orientierung anbietet und dem Individuum die Freiheit belässt. Insofern sehe ich unserer Zukunft durchaus optimistisch entgegen. Als neue religiöse Menschen werden wir vielleicht auch von den Moslems akzeptiert.