Prof. Dr. Dr. h. c. Hermann Lübbe
Wozu das Ganze? Über Sinnfragen
"Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja nicht in objektiver Weise" - so schrieb Sigmund Freud am 13. August 1937 an Maria Bonaparte. Das bedeutet: Die Therapiebedürftigkeit des Subjekts, die sich für Freud in der Äusserung des Sinnverlangens bekundet, verlangt nicht Sinnverschaffung, vielmehr die mit psychoanalytischen Mitteln zu besorgende Rückversetzung des Menschen in eine Lage, in der die Frage nach dem Sinn des Lebens, statt beantwortet zu sein, als solche verschwindet.
Für unser gegenwartssprachlich programmiertes Ohr klingt Freuds Feststellung, die Frage nach dem Sinn des Lebens sei ein Krankheitssymptom, befremdlich. Wir finden uns heute ja mannigfach zu Sinnvergewisserungen aufgerufen - individuell und kollektiv, in nationaler und europäischer Perspektive, pädagogisch und psychagogisch, politisch und selbstverständlich auch religiös. Einschlägige Beihilfen zur Lebenssinnverschaffung finden wir angeboten - in der Familienpresse und in Volkshochschulkursen, in Akademieveranstaltungen und in kirchlichen Dienstleistungen sowieso.
Umso aufschlussreicher ist die Antwort auf die naheliegende Frage, wieso Sigmund Freud denn im Unterschied zu unserem gegenwartsprägenden Sinnverschaffungsaktivitäten das Aufbrechen der Frage nach dem Sinn des Lebens für bedenklich hielt und somit unterstellte, dass in der Normalität unserer Lebensverbringung sich Sinnbedürfnisse gar nicht melden. Man vergegenwärtige sich zunächst, dass Sigmund Freud sich mit seiner zitierten Äusserung Maria Bonaparte gegenüber keineswegs als Exzentriker profiliert hat. Immerhin gehört es zur Normalität alt-europäischer Überlieferung bis tief in das 20. Jahrhundert hinein, dass wir die Frage nach dem Sinn des Lebens, nämlich in dieser Kennzeichnung, hier gar nicht aufgeworfen finden. "Lebenssinn" - das ist tatsächlich kein Thema der klassischen Texte europäischer Ethik. Die lateinischen und griechischen Äquivalente des Wortes "Sinn" sind mit dem Worte "Leben" im Sinne des uns heute so geläufigen Begriffsnamens "Lebenssinn" gar nicht verbindbar. Für biblische Texte gilt dasselbe. Kein älterer Katechismus, kein Gesangbuch stellt uns ausdrücklich und in Verwendung des Wortes "Lebenssinn" den eben so genannten Lebenssinn in Aussicht, und es lässt sich plausibel machen, wieso das so ist.
Also: Man erinnere sich an die wichtigsten herkömmlichen Gebrauchsvarianten des Wortes "Sinn", die in der deutschen Sprache wie analog auch in anderen europäischen Sprachen sehr alt sind und uns auch heute noch ebenso vertraut wie unentbehrlich. "Sinn" - das ist, erstens, ein Wort zur Benennung jener Organe, die uns die Wirklichkeit wahrnehmungsmässig aufgeschlossen sein lassen und so zugänglich machen ("wirklichkeitsaufschliessender Sinn" oder "Organsinn"). "Sinn" - das ist, zweitens, ein Wort zur Kennzeichnung der Bedeutung sprachlicher oder sonstiger symbolischer Zeichen ("semasiologischer Sinn"). "Sinn" - das ist, drittens, ein Wort zur Benennung des Zwecks oder der Dienlichkeit von Handlungen oder auch von Elementen in Handlungssystemen, von Werkzeugen zum Beispiel ("Funktionssinn" oder "Handlungssinn").
Erinnert man sich ausdrücklich an diese drei hauptsächlichen Gebrauchsvarianten des Wortes "Sinn", so wird es in der Tat rätselhaft und damit erklärungsbedürftig, wieso denn im Deutschen schliesslich doch das Wort "Lebenssinn" sich durchsetzen und gemeingebräuchlich werden konnte. Das Leben ist schliesslich kein Organ. Als lebendige Wesen haben wir Sinne, fünf sogar, sind aber doch keins. Symbole und in Hochkulturen selbstverständlich auch Texte sind unentbehrlich, um sich im Leben zurecht zu finden. Aber unser Leben ist doch als solches weder ein Symbol noch ein Text. Und noch einmal gilt: Unser Leben vollzieht sich nicht nur, aber nicht zuletzt in Handlungen und wir benötigen dafür Werkzeuge, Maschinen gar, Kooperationen und ihre Organisationen. Aber es hat doch keinen Sinn zu sagen, dass unser Leben eine Handlung sei oder ein Werkzeug, eine Maschine gar oder ein Handlungssystem, innerhalb dessen unser Leben eine Funktion wäre.
Noch einmal also: Handlungen sind sinnvoll, Texte hoffentlich auch und gesunde Sinne wünschen wir uns alle. Aber unser Leben ist weder ein Text noch eine Handlung noch ein Organ, und dennoch schreibt ihm der Neologismus "Lebenssinn" Sinn zu. Das ist erklärungsbedürftig, und eben diese Erklärungsbedürftigkeit ist auch die Voraussetzung für die Anmutung der Anormalität, die sich für Sigmund Freud mit dem Verlangen verband, dem Leben Sinn zusprechen zu wollen.
Dabei ist Freud selbstverständlich keineswegs der Einzige, dem die Lebenssinnfrage lebensfremd vorkam. Wer die "Sinnfrage" stelle, hat sich "verlaufen", konstatierte Arnold Gehlen, und Karl Popper fand es analog befremdlich und bedenklich, dass die modernen politischen Hochideologien über das Leben hinaus sogar der Entität "Geschichte" einen Sinn abverlangen und zusprechen zu können glaubten. Indessen: Gegen die Macht des Sprachwandels - und ein solcher bekundet sich ja in der neuen Gemeingebräuchlichkeit der Lebenssinn-Formel - bleibt konservativer Widerstand im Endeffekt stets vergeblich, und die begriffsgeschichtliche und näherhin wortgebrauchsgeschichtliche Forschung hat uns inzwischen darüber belehrt, dass vom "Sinn des Lebens", von dem doch die Texte alt-europäischer philosophischer und religiöser Klassik gar nicht hätten sprechen können, bereits im späteren 19. Jahrhundert auftaucht - 1876 bei Friedrich Nietzsche zum Beispiel.
Den grossen Durchbruch in der Verwendung der Lebenssinn-Formel bewirkte übrigens ein friesischer Landsmann von mir, nämlich der inzwischen einigermassen unbekannt gewordene Philosoph Rudolf Eucken. Eucken, Professor der Philosophie in Jena, veröffentlichte im Jahre 1907 ein Buch mit dem Titel "Der Sinn und Wert des Lebens". Das Buch wurde alsbald in alle grossen Weltsprachen übersetzt. Die Übersetzung ins Französische, zum Beispiel, veranlasste und bevorwortete immerhin kein Geringerer als der französische Nobelpreisträger Henri Bergson. Euckens Ruhm verbreitete sich weltweit bis in die USA und nach China. Dass Rudolf Eucken, bereits 1908, seinerseits den Nobelpreis erhielt, will dazu passen. Bis heute ist Eucken der einzige nobelpreisgekrönte deutsche Philosoph geblieben. Damit wäre auf einige Autoren verwiesen, die den Neologismus "Lebenssinn" populär gemacht haben, so dass inzwischen, nämlich nach meiner Kenntnis zum ersten Mal in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sogar Katechismen fragen "Was ist der Sinn dieses Lebens?", ja sogar "Was ist der Sinn dieser Welt?".
Aber was ist es denn nun, was die Neuerer Nietzsche, Eucken, Bergson und andere mit ihrem Neologismus "Lebenssinn" bis in unsere neueren Katechismen hinein hat erfolgreich werden lassen? Immerhin, liesse sich vorweg sagen, hat sich unsere Sprache gegen diese Neuerung nicht gesperrt, und auch das lässt sich mit Rekurs auf eine noch nicht erwähnte alte Gebrauchsvariante des Wortes "Sinn" plausibel machen. "Sinn" hat nämlich über die skizzierten drei Hauptbedeutungen von Organsinn, Text- und Symbolsinn sowie Handlungssinn hinaus auch noch die Bedeutung "Richtung". Für die romanischen Sprachen gilt das zumal, und jedem Autofahrer ist dieser vierte Sinn von "Sinn" als Richtungssinn schon in den engen Altstädten Italiens in Gestalt des aufhaltsamen Strassenschilds "senso unico", Einbahnstrasse also, begegnet. In der deutschen Sprache ist "Sinn" als Richtungssinn weniger aufdringlich präsent, fehlt aber auch hier nicht, kommt zum Beispiel als "Uhrzeigersinn" vor, und mit einiger sprachlicher Angestrengtheit mögen wir finden, dass Lebenssinnfindung die Aufgabe sei, unserem Leben eine Richtung zu geben.
Nichtsdestoweniger ist es nützlich, mit Freud oder auch Popper für die Befremdlichkeit des Neologismus "Lebenssinn" aufgeschlossen zu bleiben, und dazu kann uns vor der fälligen Plausibilisierung seines Erfolgs noch einmal der Rekurs auf den zitierten Buchtitel von Rudolf Eucken dienen, nämlich der Titel "Der Sinn und Wert des Lebens". Die Kombination von "Sinn" und "Wert" ist es, auf die man hier aufmerksam sein muss. Auch für den Begriff des Wertes gilt ja, dass er uns in unseren aktuellen Selbstverständigungsbemühungen sehr wichtig geworden ist. Wir nennen zum Beispiel mit dem Bundesverfassungsgericht das Leben einen "Höchstwert". Wir beschwören die europäische "Wertegemeinschaft" und zweifeln, ob damit die Zugehörigkeit der Türkei zur Europäischen Union überhaupt vereinbar sei, und wir kennzeichnen zusammenfassend unsere Grundrechte als "Werte". Auch das ist doch erstaunlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass in den klassischen, also massgebenden Grundtexten unserer europäischen ethischen und theologisch disziplinierten religiösen Überlieferung der Wertbegriff gar keinen Ort hat. Er hat seinen klassischen Ort vielmehr in der Ökonomie, und Kant noch konnte entsprechend finden, unser Leben habe, statt einen "Wert", vielmehr "Würde".
In der Tat: Es ist nicht folgenlos, dem Leben einen Wert zuzusprechen. Wenn wir uns erst einmal einfallen lassen, das Leben zu bewerten, können wir doch entgegen bundesverfassungsgerichtlicher Verfügung, die den Höchstwertcharakter des Lebens feststellt, in Einzelfällen, auch in kollektivierten Einzelfällen zu anderen Bewertungen gelangen. So geschah es bekanntlich in der nationalsozialistischen Behindertenpolitik, die auf "lebensunwertes Leben" zu erkennen wusste und entsprechend verfuhr. Aber auch in freiheitlich verfassten modernen Gesellschaften sind Lebensbewertungsfragen rechtspolitisch wirksam geworden - in der Erwägung zum Beispiel, ob nicht die aktive Suizidbeihilfe in jenen Fällen straflos gestellt werden solle, in welchen der Todeswunsch auf dem Resultat der ernsthaften und rationalen Lebensbilanz beruht, das Leben sei wertlos geworden und seine Fortsetzung entsprechend sinnlos.
Es ist evident: Lebensbewertungen und Lebenssinnzuschreibungen sind über ihren neologistischen Charakter hinaus potentiell folgenreich, und entsprechend sollten wir zunächst uns verständlich zu machen suchen, wieso es sich denn unsere moderne Zivilisation hat einfallen lassen, im Unterschied zu den klassischen Urkunden europäischer philosophischer und religiöser Selbstverständigung dem Leben Sinn und Wert abzuverlangen. Dem Verständnis dessen lässt sich mit Rückgriff auf ein Theorem von Karl Marx näher kommen. Gewiss: Die politische Unternehmung, die marxistisch-leninistische Weltverbesserungsidee Realität werden zu lassen, ist gescheitert, nachdem sie einigen Dutzend Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, deren Wert in Relation zum Höchstwert endgültiger politischer Geschichtssinnexekution als vernachlässigungswert, ja als schädlich bewertet worden war. Aber die intellektuelle Erztugend des Aufklärungszeitalters war doch der Eklektizismus, und unbeschadet der Schadensfolgen marxistischer Geschichtssinnverwirklichung bleibt doch die Marx'sche Charakteristik des Zivilisationsprozesses als eines Prozesses fortschreitender Verwandlung von Lebensvoraussetzungen in Produkte unserer eigenen Arbeit sinnvoll. In der Tat: Zuvor unverfügbar Gewesenes wird im Zivilisationsprozess in Verfügbares verwandelt. Lebensvoraussetzungen, die in vormodernen Zeiten schlechterdings handlungssinntranszendenten Charakter hatten, werden entsprechend unter Handlungsgesichtspunkten validierbar, das heisst nach ihrem Wert oder auch Unwert einschätzungsfähig.
Das sei exemplarisch erläutert. Zu den Rationalitätsgewinnen des aktuellen medizinisch-technischen Fortschritts gehört es bekanntlich - inzwischen schon seit Jahrzehnten -, pränatal Schädigungen des im Mutterleibe heranwachsenden Kindes zu erkennen. Sind diese Schädigungen auf andere Weise pränatal nicht kurierbar, so werden sie heute in der übergrossen Mehrzahl der Fälle durch pränatale Tötung, nämlich durch Abtreibung des geschädigten ungeborenen Lebens sozusagen geheilt. Unsere Rechtsordnung kennt Lebensunwertfeststellung als Rechtsgrund straflos verbleibender Schwangerschaftsabbrüche nicht. Sie unterstellt vielmehr regelmässig einen den Schwangeren nicht zumutbaren Konflikt zwischen dem Lebens- und Selbstverwirklichungsinteresse der Mutter und dem Lebensrecht des geschädigten Nasciturus und stellt die Lösung dieses Konflikts zu Lasten dieses Nasciturus anheim, das heisst sie erklärt seine Abtreibung für straflos. So oder so: In der Lebensrealität wird, zumeist, das Resultat der Bewertung des ungeborenen Lebens nach Analogie der Bewertung von Handlungsresultaten zur Grundlage der einschlägigen Entscheidung über Leben und Tod gemacht, und die Selbstberuhigung, dass doch die Verhinderung sinnlosen Lebens sogar den Charakter einer moralischen Pflicht habe, liegt alsdann nur allzu nahe.
Man kann die die Lebenssinnfrage evozierende Bedeutung der skizzierten Entscheidungslagen noch schärfen mit Rekurs auf einen Spezialfall praktischer Konsequenzen der Nutzung pränataler Diagnosemöglichkeiten. Ich meine die seltenen, aber im Prinzip doch unvermeidbaren Diagnosefehler, die den untersuchenden Arzt zur Beruhigung der Schwangeren die Geburt eines gesunden Kindes verheissen liessen, das alsdann aber doch schwer geschädigt zur Welt gebracht wird. Es ist vorgekommen, dass nach Analogie von Gewährleistungsansprüchen, wie wir sie in den Ordnungen unseres Rechts an die Fehlerfreiheit der Leistungen beauftragter Dritter richten, das unerwartet geschädigt geborene Kind, vertreten durch seine Eltern, vor Gericht gegen den Arzt, der diagnostisch die Geburt eines gesunden Kindes prognostiziert hatte, Anspruch auf Entschädigung für den Schaden erhob, als den seine Eltern das Faktum seiner geschädigten Existenz im Kontrast zu seiner abtreibungsbedingten Nicht-Existenz erfuhren, die sie im Nachhinein sich gewünscht hätten. Exakt das ist die Figur der Unterwerfung menschlichen Lebens unter die Normen, durch deren Beachtung wir Handlungssinnerfüllung garantieren möchten. Man erkennt: Die Validierung unserer Handlungen unter dem Gesichtspunkt ihres guten und erfüllten oder auch weniger guten und unerfüllt gebliebenen Sinns überträgt sich auf unser Dasein in demselben Umfang, in welchen Handlungen Dritter am gewünschten oder nicht gewünschten, am wohlgeratenen oder weniger gut geratenen Bestand unseres Daseins beteiligt waren und somit unsere Existenz sich partiell von einem Datum in ein Faktum verwandelte. Nach einer amerikanischen gerichtsnotorischen Charakteristik des Falles handelt es sich um das Faktum "wrongful birth". Dasein als Schadensfall - das wird als modernitätsspezifischer Gegenstand unserer Wahrnehmung möglich. Erfreulich bleibt, dass sich unsere Rechtskultur als stabil genug erwiesen hat, die Idee, Dasein unter Entschädigungsgesichtspunkten zu betrachten, zurückzuweisen. Immerhin werden aber doch Entschädigungspflichten für die Kosten von Sonderleistungen für die Fristung eines handlungsabhängig geschädigt zur Welt gekommenen Daseins rechtlich anerkannt - Entschädigungspflichten für Schäden somit, die sich nur auf eine einzige Weise hätten vermeiden lassen, nämlich durch rechtzeitige Überführung des geschädigten Lebens in die Nicht-Existenz.
Noch einmal also: Mit der zunehmenden Menge der Lebensvoraussetzungen, die sich in Resultate unseres eigenen Handelns verwandelt haben und damit den Anforderungen ihrer Absichts- und Sinngemässheit unterliegen, wird schliesslich unsere Existenz selber handlungssinnanalog gedacht und der Geltung von Bewertungen und Sinnfeststellungen unterworfen. Es lässt sich nun zeigen, dass jenseits einer wohlbestimmten Grenze just diese Unterwerfung des Daseins unter bewertungsfähige Sinngesichtspunkte sinnwidrig wird. Zur Ultrakurzvergegenwärtigung dessen hat Odo Marquard gelegentlich den Wiener Publizisten Edgar Polgar zitiert, der sich auf die uns noch vom Gymnasialunterricht her vertraute Sophokleische Klage bezog "O, wäre ich nie geboren!". Das ist ja die Klage, deren Anlässe Teil menschlichen Lebens sind. Sind diese Anlässe handlungsvermittelt, so sollten sie doch vermeidbar sein, meinen wir. Aber finden wir uns erst einmal von solchen Handlungsfolgen betroffen, so ist es ja insoweit für diese Vermeidung zu spät, und die zitierte klassische Klage mag sich unabweisbar aufdrängen. "O, wäre ich nie geboren!" - ja gewiss, aber wem passiert das schon, notierte dazu Alfred Polgar und machte so die Sinnwidrigkeit evident, die sich ergibt, wenn wir versuchen wollten, das Datum unserer Existenz vollständig als handlungssinnerfülltes Faktum zu denken.
Auch wer dem religiösen Element unserer Kultur, die ja, wie eingangs erläutert, bis tief in das 19. Jahrhundert hinein in den Grundtexten europäischer Überlieferung Lebenssinnfragen unter Verwendung des Begriffsnamens "Lebenssinn" gar nicht aufwarf, fern steht, findet sich hier in dem zitierten Polgar-Notat mit demjenigen Element unserer Lebensverfassung konfrontiert, auf das wir uns sinnvoll handelnd, nämlich wirklichkeitsverändernd gar nicht beziehen können, vielmehr einzig religiös. Das sei mit Rekurs auf ein traditionales Lehrstück theologienaher europäischer Philosophie erläutert. Dieses Lehrstück ist antiken Ursprungs, hat aber seine Präsenz bis ins 18. Jahrhundert hinein behalten, wo es uns bei Leibniz zum Beispiel begegnet. Ich meine das Lehrstück vom doppelten Willen Gottes, wonach, was Gott will, einerseits das ist, was wir tun sollen. Es gibt ja keine Religion, die nicht zugleich auch als Morallehre Anleitung zur Lebensverbringung böte, soweit eben gelingendes Leben sich in Handlungen oder Unterlassungen vollzieht, in denen wir an moralischen Geboten oder Verboten orientiert sind. Das also will Gott - einerseits. Andererseits, so besagt die zitierte Lehre vom doppelten Willen Gottes, ist, was Gott will, das, was ohnehin ist, wie es ist und geschieht, wie es geschieht. Auch moralisch könnte ja niemand handeln, der dabei nicht zunächst einmal, was ist, wie es ist, und was geschieht, wie es geschieht, zur Kenntnis nähme - möge nun, was ist, wie es nun einmal ist, uns bei unserem moralisch gerechtfertigten Tun begünstigen oder eben auch nicht. Kurz: Der lebensangemessene Modus unserer Beziehung auf das, was nun einmal nach Gottes Willen so ist, wie es ist und geschieht, wie es geschieht, ist gerade auch dann noch, wenn wir uns aus moralischen Gründen zur Weltverbesserung aufgerufen finden, die realistische Hinnahme dessen, was ist, wie es ist und was geschieht, wie es geschieht, und in dieser Hinnahme die Annahme des Willens Gottes in der zweiten seiner beiden Bedeutungen. In der lebenspraktischen Konsequenz heisst das: Religion macht hyperrealistisch, und just im Verhältnis zu uns selbst bringt sich unabweisbar zur Evidenz, wie hilfreich und ineins anspruchsvoll, nämlich beistandsbedürftig der Akt realistischer Selbstannahme ist. Bei diesem Akt der Selbstannahme handelt es sich ersichtlich nicht um Moral. Es handelt sich um Religion. So nennen wir das, nämlich gemäss der zitierten Lehre vom doppelten Willen Gottes - also die Selbstannahme des unabwendbaren Datums, dass wir sind statt nicht zu sein, und damit zugleich die Annahme des indisponiblen Bestandes, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Es mag ja sein, dass einem im Versuch, auf die Frage, "Wozu das Ganze?" eine Antwort zu finden, unter Handlungssinngesichtspunkten gar keine Antwort einfällt. Aber wer daraufhin sich zur Feststellung entschlösse, das Ganze sei ja ersichtlich sinnlos, hätte nicht eine realistische Feststellung getroffen. Er wäre vielmehr einer falschen Frage aufgesessen, nämlich der Frage nach der Handlungssinnvalidität dessen, was einschliesslich unserer selbst zunächst einmal angenommen sein will, bevor wir uns im Rahmen unserer höchst unterschiedlichen Könnerschaften gemäss nützlichen und gebotenen Zwecken an die Arbeit machen.
Kehren wir von der Religion zur Moral zurück und fragen wir lebensführungspraktisch, worum es sich denn dabei in letzter Instanz handele. Worum ist es lebenspraktisch im Ganzen zu tun? Diese Frage ist tatsächlich die Kernfrage der in Europa überlieferten Texte zur Ethik, und zur Beantwortung dieser Frage steht uns im Deutschen das schöne Wort "Glück" zur Verfügung. "Viel Glück!", so finden wir uns ja immer wieder einmal bei Antritt einer Reise, bei Übernahme einer neuen Tätigkeit, beim Einzug ins fertig gestellte Haus mit einem freundlichen Wunsch ausgestattet. Gut Getanes wird mit Gratulationen kommentiert, und es gibt tatsächlich Lebensbilanzen, die uns im Alter dankbar auf ein glücklich verbrachtes Leben zurückblicken lassen.
"Glück" also - was ist das? Bei Ökonomen treffen wir immer wieder einmal auf jene ihrerseits keineswegs grundlose Meinung, die findet, auf die Frage, was ihn glücklich mache oder glücklich gemacht habe, habe eben jeder Mensch seine eigene Antwort und jeder Versuch, Glücksvorstellungen verbindlich zu machen, ende in Tyrannei oder auf armselig beschickten Märkten. Diese Meinung hat ihren trivialen, unwidersprechlichen Sinn, den ich, eben seiner Trivialität wegen, hier nicht weiter zu erläutern brauche. Nicht trivial ist, was unsere ethische Überlieferung generalisierend zum Glück zu sagen pflegt. Ich riskiere, diese nicht-triviale Antwort auf die Frage nach dem Glück folgendermassen in unser Gegenwartsdeutsch zu übertragen: Glück - das ist die nicht direkt intendierbare Nebenfolge sinnvollen Tuns insbesondere dann, wenn dieses Tun unsere Kräfte fordert, nämlich moralisch und physisch, ohne uns dabei durch Überforderung unserer Kräfte zu zerrütten. Unter Nutzung eines alten deutschen Wortes, das in jüngst vergangenen Jahren neu gemeinverwendungsfähig geworden ist, lässt sich auch sagen: Glück ist eine Nebenfolge tugendhaften Lebens. Wer mit dem Worte "Tugend" doch noch seine Schwierigkeiten hätte, möge zur Kenntnis nehmen, worum es sich denn dabei eigentlich handelt - um moralische Könnerschaften nämlich wie die in Zuständen der Fülle so wichtige Tugend der Mässigkeit, wie die nicht nur Soldaten, vielmehr auch jedem Feuerwehrmann angesonnene Tugend der Tapferkeit, wie die Tugend der Gerechtigkeit, die ja nicht nur eine Sache von Richtern, vielmehr desgleichen von notenvergebenden Lehrern oder lobenden und tadelnden Eltern ist, und wie die Tugend der Klugheit schliesslich, die uns wie schon erläutert abverlangt, bei alledem vorweg die jeweils aktuelle Lage der Dinge zu berücksichtigen und die realen Folgen unserer handelnden Eingriffe in sie einzukalkulieren.
Erläuterungsbedürftig ist natürlich die Auskunft, Glück sei eine Nebenfolge sinnerfüllten, nämlich in der erläuterten Weise tugendgeleiteten Handelns. Wieso sollten wir denn nicht Glück direkt zu unserem Lebenszweck erheben? Die Antwort auf diese Frage hat ein ausserordentliches lebenspraktisches Gewicht. Glück, gewiss, ist schliesslich stets auch eine Binnenbefindlichkeit der Subjekte, ein erfüllender, tragender Zustand, in welchem man sich mit sich selbst und der Welt in Übereinstimmung befindet. Wieso sollten wir denn nicht das Glück in dieser Charakteristik direkt zu gewinnen trachten? Nun - was hiesse denn, sich direkt in einen Zustand angenehmer Binnenbefindlichkeit zu versetzen? Es hiesse, sich unter Vermeidung des physisch und moralisch anstrengenden Umwegs über die Realität direkt auf sich selbst zurückzubeziehen - zum Beispiel chemisch-medikamentös, womit sich ja in der Tat, wie die Erfahrung lehrt, angenehme Binnenlagen erreichen lassen. Wer aber das auf Dauer zu stellen versucht, bewirkt im Endeffekt stets zweierlei: zunächst Realitätsverlust und schliesslich Selbstzerstörung. Es ist die Struktur der Sucht, die damit ultrakurz gekennzeichnet ist. Der Weg zurück zur Realität einschliesslich der Realität menschlichen Zusammenlebens ist verlegt, und das schliesst im Endeffekt Selbstverlust ein.
Das Kontrastbild gelingenden Lebens wird satt in der Vergegenwärtigung jenes sinnvollen Tuns, als dessen Nebenfolge Glück sich dann einstellt. "Sinnvolles Tun" - es ist doch nicht schwer, sich davon ein lebensrichtiges Bild zu machen. Schon unsere Alltagserfahrung steht dafür - die Fülle dessen, was in Erfüllung der Anforderungen, die Personen und Sachen, für die wir verantwortlich sind, an uns richten, alltäglich getan werden will. Wird es getan, so ist es im Nachhinein der Blick aufs Getane, wenn wir uns sozusagen oder auch buchstäblich den Schweiss von der Stirn wischen, mit dem Glück sich verbindet, und sei es auch nur ein Anhauch davon.
Wahr ist, dass Sinnevidenz unserer Alltagslagen, das heisst also die einigermassen unzweifelhafte Beantwortung der Frage, was wir zu tun und zu lassen haben, keineswegs stets verlässlich gegeben ist. Alsdann gibt es besonders viel zu tun und besonders Schwieriges überdies. Wir müssen, was wir zu tun und zu lassen haben, statt es einfachhin zu tun, seinerseits erst finden oder in seinen Voraussetzungen sichern - durch einen Gang zum Arzt zum Beispiel, bevor wir zur Arbeit gehen, durch eine Veränderung unserer selbst also oder auch unserer Lebensumstände, der Gesetze und Institutionen gar, die ja normalerweise zur Hintergrundserfüllung unseres Lebens gehören etc. Das alles kann natürlich in extremen Lebenslagen bedeuten, dass das Ausmass des Unglücks das Mass des Glücks, das uns gleichwohl noch beschieden sein mag, bei weitem überbietet. Was uns in solchen Lagen schliesslich einzig noch übrig bleibt - das hatten wir ja schon, nämlich die Hinnahme und Annahme des Unglücks in der Bewährung von Tugenden, die nach der Natur der Sache eben nicht mehr moralische Tugenden, vielmehr überlieferungsmässig so genannte "geistliche" Tugenden sind wie die Hoffnung zum Beispiel.
Ich greife abschliessend noch einmal die Titelfrage dieses Vortrags auf, also die Frage "Wozu das Ganze?". "Wozu das Ganze?" - das ist gewiss keine Alltagsfrage. Aber wo sie sich lebenspraktisch ernsthaft stellt, droht uns Alltagsunfähigkeit, und deren Wiederherstellung macht Selbstvergewisserung nötig. Dafür reichen gute Vorsätze und schöne Pläne niemals aus. Wer wir sind - darüber gibt gesamthaft einzig jeweils unsere Geschichte Auskunft. "Je suis mon passé", so heisst das bei Jean Paul Sartre. Deswegen legen wir jedem Bewerbungsschreiben einen Lebenslauf bei. Wer diesen liest, möchte natürlich Bekanntschaft mit einer sinnvollen Lebensgeschichte machen. Um eine uneingeschränkt zustimmungsfähige Geschichte muss es sich dabei gar nicht handeln. Wer das verlangte, erhöbe mit destruktiven Wirkungen überzogene Sinnansprüche. Als ausreichend sinnerfüllt gelten Geschichten dann, wenn sie sich sinnvoll fortsetzen lassen. So urteilt jeder Personalchef, und wir mögen fragen, ob sich das auch auf die grossen Kollektivgeschichten übertragen liesse, über die wir uns unserer kulturellen, sozialen und politischen Zugehörigkeitsverhältnisse zu vergewissern pflegen.
Nun - die Sinnbilanz der Grossgeschichte unserer westlichen Zivilisation fällt momentan immer noch überwiegend günstig aus. Die terroristischen Regime totalitärer Prägung sind untergegangen. Orwell hat unrecht behalten. Sogar der Kalte Krieg ist im wesentlichen friedlich zu Ende gegangen. Ewiger Friede ist damit freilich nicht eingekehrt. Die weltweite Präsenz der neuen Plage des fundamentalistisch motivierten und staatsunabhängig praktizierten Terrors lehrt es.
Die Analyse des guten Sinns, dessen die Terroristen gewiss zu sein glauben, müsste uns an dieser Stelle allzu lang beschäftigen. Fragen wir stattdessen, wie denn, was im soeben zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert vorgefallen ist, möglich war. In jedem Falle gilt: Die totalitären Führer legitimierten ihre Gewaltherrschaft ideologisch, und absolute Geschichtssinngewissheit war stets der Kern ihres Politglaubens.
"Uns ist alles erlaubt" - so liess in dieser Gewissheit Lenin schreiben, und als Praxis ergab sich terroristische Klassendiktatur zum denkbar höchsten Zweck definitiver Menschheitsbefreiung.
Der Nationalsozialismus praktizierte demgegenüber eine eliminatorische Rassendiktatur, und den Zweck der Reinigung des parasitär erkrankten Volkskörpers wusste Hitler als ultimativen Geschichtssinn sogar der Bibel zu entnehmen. Die alten Ägypter hätten sich zu ihrem Vorteil von den Juden befreit. Im Missionswerk des zum Paulus mutierten Juden Saulus habe dann aber doch die jüdische Dekadenz vorerst gesiegt, nämlich als jüdisch-christliche Religion, die in ihrem Kern "nichts anderes als Kommunismus" sei - so Hitlers weltgeschichtliche Sinnvergewisserung für seinen "Kampf" noch Ende November 1944 in seinen Führerhauptquartier-Monologen.
In intellektueller Hinsicht repräsentiert dieses Geschichtsbild, jiddisch gesprochen, Stuss, aber Stuss mit tödlichen Folgen. Die leninistische Geschichtssinnergreifung enthielt demgegenüber allerlei intellektuell interessante Elemente mit universalisierbarem Gehalt. Aber für Millionen Subjekte geschichtssinnwidriger Klassenzugehörigkeit war das weder rettend noch tröstlich.
Inzwischen befindet sich die Menschheit fast überall vom politischen Zwang zur Anerkennung eines höheren Geschichtssinns befreit. Man sollte aber diese Befreiung nicht ihrerseits zum Sinn der Leiden der Opfer der grossen Geschichtsvollendungsaktionen erheben wollen. Man sollte vielmehr der Einsicht Sigmund Freuds folgen, dass man auf Sinnfindungsansprüche besser verzichtet, wo Sinnsuche vergeblich wäre.
Was sich im Verlauf unseres katastrophenreichen Jahrhunderts ereignet hat, ist ja nicht der Triumph des wahren Geschichtssinns über den falschen, vielmehr die Erneuerung, Kräftigung und Ausweitung des schlichten und elementaren Rechts, sich endlich wieder den trivialen Zwecken unserer gemeinen Lebensverbringung widmen zu können, die einer Überprüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem höheren Sinn der Geschichte nicht bedürfen, dafür aber der Approbation durch den Common sense fähig sind.
Auch die immer noch anwachsende Dynamik unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation hat ihren Grund nicht in unwiderstehlichen Verheissungen einer sich nähernden Geschichtssinnerfüllung. Diese Dynamik erklärt sich vielmehr aus der Evidenz der elementaren Lebensvorzüge dieser Zivilisation. Nie zuvor haben Menschen sicherer, besser, gesünder und länger als in der modernen Industriegesellschaft gelebt. Es sind die medial omnipräsenten Bilder unserer Art zu leben, die heute in weiten Teilen der ärmeren Welt als Zielvorstellungen wirken, Migrationsströme lenken, Kooperationen suchen lassen und damit sogar tendenziell unsere Welt friedensfähiger machen.
Die Trivialität dieser offenbaren Sinngehalte der zivilisatorischen Evolution ist eben auch politisch vorteilhaft. Das Triviale verbleibt gemeinsinnsfähig. Es ist weder Expertensache noch Ideologenthema. Es ist uneingeschränkt demokratisierbar. Sogar in ordnungspolitischer Hinsicht sind, wie uns das Ende des real existent gewesenen Sozialismus demonstriert hat, hochentwickelte Gesellschaften zentralistisch-diktatorial nicht steuerbar. Sie sind statt dessen auf Kräfte selbstbestimmter Selbstorganisation angewiesen.
Trivial ist allerdings auch, dass die zivilisationsabhängige Wohlfahrt nicht schrankenlos steigerungsfähig ist, und auch diese Trivialität bringt sich inzwischen verhaltenspraktisch und politisch zur Geltung. Unsere Empfindlichkeit gegenüber Folgelasten unserer Wohlfahrt nimmt rascher zu als die Wohlfahrt selbst und wir machen somit Erfahrungen mit dem abnehmenden Grenznutzen ihrer weiteren Steigerung. Der Umweltschutzpolitik zum Beispiel kommt das zugute. Die Erfolge dieser Politik sind es und nicht etwa neue Leichtfertigkeiten, die die Bürger ökologisch heute etwas unbesorgter sein lassen.
Das gibt zusammenfassend ein günstiges Bild unserer derzeitigen Lage. Um eine geschichtssinngewisse Lage handelt es sich nichtsdestoweniger nicht. Je besser es uns geht, um so nachdrücklicher finden wir uns zugleich daran erinnert, dass jede Geschichte - sei sie eine sinnvolle Geschichte oder auch nicht - einmal zu Ende geht. Für unsere individuelle Lebensgeschichte gilt das ohnehin, und ihr wohlbekanntes Ende ist weder ihr Sinn noch macht dieses Ende unsere Lebensgeschichte sinnlos.
Für unsere Kollektivgeschichten, ja für die Geschichte unserer Gattung gilt nichts anderes, und eben deswegen wird auch in der modernen Zivilisation das Ende aller Dinge wie eh und je ungeniert thematisiert. Sogar auf hochentwickeltem wissenschaftlichen Niveau geschieht das. Kosmologen kalkulieren unter Berücksichtigung harter Fakten die Wahrscheinlichkeit neuer, zivilisationsbeendender Grossmeteoriteneinschläge. Andere Szenarien letzter Tage hienieden werden reichlich angeboten. Die Katastrophenfilme aus der Hollywood-Filmproduktion visualisieren es dann. Mediale Ankündigungen einer weiteren wissenschaftsabhängigen Steigerung unserer durchschnittlichen Lebenserwartung werden mit Interesse zur Kenntnis genommen, und zugleich wird unbefangen in den Lebensberatungsspalten der Familienpresse erörtert, unter welchen Voraussetzungen das überhaupt sinnvoll sei.
Das alles bedeutet: Es gehört zur Normalität unseres individuellen und kollektiven Lebens, dass die Gewissheit des Endes unserer Geschichten stets grösser ist als die Gewissheit ihrer Sinnfülle. Die Weigerung, das anzuerkennen, macht mit destruktiven psychischen, ja politischen Wirkungen das Sinnverlangen hypertroph. Das ergibt dann Prophetien von der Art "Ubi Lenin, ibi Jerusalem", zu der sich Ernst Bloch verführen liess.
Demgegenüber verbleiben die religiösen Verheissungen des himmlischen Jerusalem bekanntlich mit dem definitiven Ende aller irdischen Geschichte verknüpft. Gerade das wirkt sich auf unsere Lebensführung entlastend aus, nämlich durch alltagspraktische Sinndiät.