Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel
Die Macht der Freiheit
Die richtige Balance zwischen Freiheit und Gleichheit muss stets neu errungen werden
Ich freue mich sehr, dass ich heute hier sein darf, und danke Ihnen ganz herzlich für diese Einladung. Es ist für mich ein ganz besonderes Erlebnis, denn Sie wissen ja, dass ich eigentlich mein ganzes berufliches Leben in der Branche zugebracht habe, in der Heinz Nixdorf so viel geleistet hat. In meinem Buch "Die Macht der Freiheit" habe ich ja auch über ihn als Konkurrenten geschrieben und zugegeben, dass der Wiederaufstieg der IBM Deutschland Ende der 80iger Jahre teilweise auch deshalb gelang, weil wir die Rezepte, die Heinz Nixdorf angewandt hat, einfach kopierten.
Er war eben eine großartige Unternehmerpersönlichkeit. Ich weiß nicht, ob die Leute, die heute an den Schalthebeln der großen Firmen sitzen, noch das Format haben, die Begeisterungsfähigkeit, die Vision oder auch die Schrulligkeit eines Heinz Nixdorf. Also, ich bin gern hier.
Eigentlich hatte ich mir als Thema die "Ethik des Erfolgs" vorgenommen, aber ich habe mir, und das ist der Vorteil, wenn man einem Vortrag zuhören darf, dann doch überlegt, dass ich vielleicht das Thema etwas anders fasse. Denn ich möchte gerne ein bisschen auf das eingehen, worüber Petra Gerster gesprochen hat: die Freiheit, die Macht der Freiheit.
Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten das Gut der Freiheit vernachlässigt hat und zwar zugunsten der Gleichheit. Nun mögen sie vielleicht sagen, wieso sollte das Eine das Andere denn ausschließen. Frau Gerster hatte ja Thomas Mann erwähnt, und da ist mir gerade eingefallen, dass ich zu meinem 50. Geburtstag, das ist schon 12 Jahre her, die Erstschrift eines Vortrages bekommen habe, den Thomas Mann am 17.9.1939 in Stockholm halten wollte. Diese Erstschrift bekam ich von Hans Merkle, dem langjährigen Chef der Firma Bosch. Viele haben ihn kennen gelernt, er ist vor zwei Jahren gestorben.
Ich weiß nicht, wie Ihnen das geht, wenn Sie diese ganzen Bücher betrachten, die man sich kauft oder geschenkt bekommt, ob man sie will oder nicht. Man legt sie irgendwo hin und sagt, wenn ich dann mal 60 bin oder wenn ich in Pension gehe, dann lese ich die alle. Diese Erstschrift, wie gesagt, eines Vortrages von Thomas Mann, die habe ich vor drei oder vier Jahren wieder in die Hand genommen; es ist ein ganz dünnes Büchlein. Der Titel: "Vom Problem der Freiheit". Nun muss man wissen, dass Thomas Mann damals schon Emigrant in Amerika war, er war Nobelpreisträger, und er sollte bei dem 17. Pen-Kongress in Stockholm kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine Rede halten. Er konnte sie nicht halten, weil der Krieg ausbrach, als er gerade die Koffer für Europa packte. Aber die Rede wurde veröffentlicht. Und ich habe niemals in meinem Leben eine so wunderbare Betrachtung gelesen über das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit.
Thomas Mann hat an damals an aktuellen politischen Beispielen überzeugend gezeigt, dass ein Zuviel an Freiheit die Solidarität kaputt macht, klar. Aber er hat auch gezeigt, dass ein Zuviel an Gleichheit die Freiheit zerstört und dass es immer darauf ankommt, den Weg in der Mitte zwischen Freiheit und Gleichheit zu finden
1990 schon hatte die "Pythia vom Bodensee" Sie kennen sie alle: Frau Noelle-Neumann , eine repräsentative Umfrage gemacht über die Sicht der Deutschen auf das Gut der Freiheit. Damals, im Jahre 1990, fand das Institut für Demoskopie heraus, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen die Freiheit höher einschätzt als die Gleichheit und interessanterweise - es war ja das Jahr der Wiedervereinigung - galt das für die Ostdeutschen noch mehr als die Westdeutschen. Daran kann man sehen, was auch Thomas Mann schon 1939 erkannte, dass nämlich das Gut der Freiheit besonders hoch von denen geschätzt wird, die es nicht haben oder gerade eben wiedererlangen.
Frau Noelle-Neumann hat die gleiche Umfrage zehn Jahre später im Mai des Jahres 2000 wiederholt. Das Ergebnis ist wirklich erschütternd: Die Mehrheit der Deutschen findet nun das Gut der Gleichheit wichtiger als das Gut der Freiheit. Die Mehrheit der Ostdeutschen sogar noch stärker.
Was ist eigentlich passiert in diesen zehn Jahren? Haben wir seither an Gleichheit verloren? Sind wir unsolidarischer geworden? Meine Beobachtung aus dieser Zeit ist, dass es eine Reihe von gesellschaftlichen Vorbildern gibt, die uns von morgens bis abends einredet, dass wir ein Zuviel an Freiheit haben und einen Nachholbedarf an Gleichheit. Bei uns rufen Politiker meist nach sozialer Gerechtigkeit, wenn sie mehr Gleichheit wollen.
Dabei - und das ist meine These - haben wir in Deutschland ein gewaltiges Defizit an Freiheit. Ist die deutsche Bevölkerung in diesen zehn Jahren wirklich ungleicher geworden? Haben wir wirklich einen gewaltigen Nachholbedarf an sozialer Gerechtigkeit? Wenn Sie die ganzen Statistiken nehmen, die man so normalerweise zur Verfügung hat, dann kann davon eigentlich keine Rede sein.
Nehmen Sie die Sozialquote. Die Sozialquote zeigt den Anteil am Bruttosozialprodukt, den wir dafür ausgeben, dass wir den sozial Schwachen helfen. Inzwischen sind das 34 Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes. Zu Zeiten Ludwig Erhards, des Vaters der sozialen Marktwirtschaft, waren es 26 Prozent. Oder nehmen Sie die Sozialversicherungsquote, das ist der Beitrag, den die Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlen müssen, um die Sozialversicherung zu finanzieren. Heute 41 Prozent, zu Zeiten Ludwig Erhards 25 Prozent. In den letzten zehn Jahren ging die Quote immer nach oben.
Oder nehmen Sie die Entwicklung des Staatshaushaltes in den letzten 30 Jahren. Da können Sie eine faszinierende Beobachtung machen: Jahr für Jahr steigen die Zinszahlungen. Also geben wir offensichtlich immer mehr für Schulden aus, die heutige und vergangene Wählergenerationen sich leisten und geleistet haben. Jahr für Jahr geben wir mehr für Soziales aus, Jahr für Jahr bleibt immer weniger Geld für Investitionen. Und das schon seit 30 Jahren. Also, es gibt gar keinen objektiven Anlass zu glauben, dass unsere Gesellschaft unsozialer geworden sei, und trotzdem hat die Mehrheit der Bevölkerung das Gefühl, wir seien unsozialer geworden.
Aber gibt es nicht für Deutschland auch einen Armutsbericht? Und steht da nicht drin, dass wir in Deutschland noch viel Armut und soziale Ungleichheit haben? Stimmt. Aber messen die Autoren des Berichts mit der richtigen Elle? Jetzt muss ich sie ein bisschen quälen. Armut wird in Deutschland wie definiert? Arm ist jede oder jeder, die oder der weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient. Ich wiederhole noch mal: Jeder, der weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, gilt als arm.
Lassen sie sich mal diese Formel - und dahinter steckt ja auch eine bestimmte Politik - genau durch den Kopf gehen. Sie macht die Gleichheit zur Norm! Denn nehmen wir mal an, wir würden alle morgen nur noch 1000 Euro im Monat haben, dann gäbe es nach der Definition keine Armut mehr. Die Formel misst also nicht Armut, sondern bloß relative Einkommensunterschiede.
Ich könnte die Sache auch umgekehrt ausdrücken. Nehmen sie mal an, wir würden alle, die Armen wie die Reichen, morgen unsere Einkommen verdoppeln. Dann hätten wir nach dem Armutsbericht der Bundesregierung immer noch 12 Millionen Arme. Man könnte das auch ein bisschen ins Lustige ziehen, ich habe gehört, man darf hier auch mal was Lustiges sagen. Nehmen sie mal an, Bill Gates käme nach Deutschland, dann hätten wir wahrscheinlich sofort 200.000 Arme mehr. Das ist die logische Folgerung dieser Formel.
Jetzt mag man sagen, das ist ja nur eine Formel. Aber ich glaube, hinter dieser Formel verbirgt sich in der Tat etwas, was die Politik bei uns dauernd anstrebt. Von Ludwig Erhard gab es mal den Slogan vom "Wohlstand für alle". Heute reden wir lieber von der sozialen Gerechtigkeit. Und sozial gerecht ist, was alle möglichst gleich macht. Ob das Leben aber für alle besser wird oder für alle gleich bleibt oder wir uns sogar verschlechtern, ist relativ uninteressant. Wir müssen diesen Trend umdrehen.
Wir dürfen es uns nicht länger gefallen lassen, uns von Aposteln in der Politik, die in allen Parteien zu finden sind, Stück für Stück die Freiheit nehmen zu lassen. Es gibt jeden Tag einen Anschlag auf unsere Freiheit. Wir lassen uns von morgens bis abends unsere Freiheit einschränken zugunsten irgendeines Gleichheitsbildes, das davon ausgeht, dass die Menschen gleich seien. Das sind sie nicht, meine Damen und Herren. Und in einer Gesellschaft, die nach der Gleichheit aller strebt, geht es am Ende allen schlechter als dort, wo Wettbewerb herrscht. Zum Begriff der Freiheit gehört nach meiner festen Überzeugung auch die Idee des Wettbewerbes. Jetzt möchte ich gerne ein bisschen auf den Vortrag eingehen, den wir gerade gehört haben.
Meine Damen und Herren, die Deutschen lieben den Wettbewerb. Wenn Michael Schumacher Formel-1-Weltmeister wird, dann fallen die Leute sich um den Hals. Ich habe Gerhard Schröder und Romano Prodi beobachtet beim letzten Preis von Europa auf dem Nürburgring. Schröder hatte Prodi eingeladen, weil es um den Preis von Europa ging. Er hatte im Hinterkopf wahrscheinlich die Idee, Prodi klar machen zu können, wie wichtig die Automobilindustrie für Deutschland ist. Es gab damals einige Streitpunkte mit der europäischen Kommission, Für mich war es eindrucksvoll zu sehen, wie Schröder, als er sah, dass Schumacher gewonnen hatte, Prodi, der den Siegerpreis eigentlich übergeben sollte, den Pokal aus der Hand nahm, um ihn selbst zu überreichen. Das waren natürlich die Bilder in der Zeitung am nächsten Tag. Was ich damit sagen will sagen will, meine Damen und Herren, ist: Wir Deutsche lieben den Wettbewerb im Sport, und wir haben gar nichts gegen ausländische Fußballspieler. Die können sogar viel verdienen, das regt gar keinen auf. Und wenn Deutsche bei der Olympiade viele Gold- und Silber- und Bronze-Medaillen gewinnen, dann sind alle begeistert.
Aber wieso haben wir eigentlich den Wettbewerb seit 1969 aus unserem Bildungssystem verbannt? Es ist meine feste Überzeugung, dass das deutsche Bildungssystem unter einem eklatanten Mangel an Wettbewerb leidet. Früher, und in einigen Bundesländern gibt es das ja noch, wurden die Zensuren nicht nach der Gauß`schen Normalverteilung in einer Klasse vergeben. So nach dem Motto, egal wie das Niveau der Klasse ist, die Zahl der Einsen, Zweien, Dreien, Vieren und Fünfen ist überall gleich. Man hat offensichtlich den Wettbewerb zwischen den Schülern vernachlässigt. Ich habe selbst vier Kinder und eins davon geht in die Walldorfschule und ich sehe, was das bedeutet, was für eine Herausforderung das für Vater und Mutter ist, wenn plötzlich das Zeugnis gar nicht mehr existiert. Also, meine Damen und Herren, der Wettbewerb zwischen Schülern, der muss wieder in Gang gesetzt werden.
Oder nehmen Sie den Wettbewerb zwischen Studenten. Früher gab es Eingangsprüfungen. 1970 war die durchschnittliche Zeit, die ein Student für ein Examen brauchte, 10 Semester. Heute sind das 14,6. Warum? Weil die Universitäten das Recht, Eingangsprüfungen zu machen, nicht mehr haben. Der Grund für den Anstieg der durchschnittlichen Studiendauer ist ja nicht die Tatsache, dass wir zu viele Studenten haben, wir haben eher im internationalen Vergleich zu wenige. Es liegt daran, dass wir zu viele Abbrecher und Umsteiger haben, und wenn Sie durch Eingangsprüfungen einen jungen Menschen gleich in die richtige Richtung bringen können, anstatt dass er irgend etwas studiert, was ihm gar nicht liegt, dann tun Sie sehr viel für ihn, für das System und für die Effizienz der Investitionen, die wir für Bildung ausgeben. Also Wettbewerb zwischen Studenten.
Übrigens hätten die Eingangsprüfungen auch eine enorme Rückkoppelung auf die Qualität der Schule, denn die Eltern würden dann nicht mehr zum Lehrer oder zur Lehrerin gehen und sagen: "Gib doch meinem Sohn oder meiner Tochter eine Zwei!" Oder fragen: "Warum hat sie denn keine Zwei bekommen?" Sie würden statt dessen irgendwann mal sagen: "Das finde ich aber komisch. Hier gibt es das Abitur und trotzdem hat mein Kind die Aufnahmeprüfung an der Universität Mannheim nicht geschafft." Dann wird plötzlich das Interesse der Eltern an der Qualität der Ausbildung geweckt und nicht nur an den Zensuren. Auch diese Rückkopplung müssen wir wieder haben.
Wir brauchen Wettbewerb zwischen Professoren. Gott sei Dank hat diese Bundesregierung jetzt dafür etwas gemacht. Allerdings sind sie auf dem halben Wege stehen geblieben. Die Idee, dass man jetzt das Gehalt der C4- und C3-Professoren erst einmal um 15 Prozent kürzt, um es dann neu zu verteilen, ist ziemlich absurd. Ich weiß, wie es da zugeht. Das Geld wird dann nämlich auch wieder nach sozialen Kriterien verteilt. Man hätte schon so großzügig sein müssen, einen Topf zur Verfügung zu stellen, den man den guten und fähigen Professoren zur Verfügung stellt. Um den üblichen Einwand vorweg zu nehmen: Man kann die Leistung eines Professoren oder einer Professorin messen. Es gibt ja viele Projekte, die das schon bewiesen haben.
Den Wettbewerb zwischen Universitäten, meine Damen und Herren, den müssen wir wieder herstellen. Es gibt ihn nicht. Wir haben eine Kultusministerkonferenz, die sich eigentlich aus dem föderalen System, das wir in Deutschland haben, gar nicht ergibt. Und diese Kultusministerkonferenz hat sich geeinigt, einstimmig, und nur einstimmig, vorzugehen. Was passiert, wenn da 16 Kultusminister oder Kultusministerinnen sitzen und man will etwas Neues machen? Dann passiert Folgendes: Sie marschieren mit der Geschwindigkeit der lahmsten Kultusministerin (ich weiß genau, in welchem Bundesland ich bin, und sage hier ganz bewusst: Kultusministerin).
Wenn wir das System des Wettbewerbs nicht wieder zurück in die Bildung bekommen, dann gnade uns Gott. Meien Damen und Herren, Sie brauchen mir nicht zu unterstellen, dass ich hier "nur" die Interessen der Wirtschaft verfolge. Darum geht's überhaupt nicht. Sie bekommen auch bessere Ärzte, wenn Sie in einem wettbewerbsorientierten System ausbilden, Sie bekommen auch bessere Philosophen, wenn Sie das tun. Und wenn man sich mal fragt, warum zur Zeit eine Rekordzahl von deutschen Jungen und Mädchen im Ausland studiert, und warum die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn gerade 22 Millionen Euro für ein Programm auflegte, um ausländischen Studenten und Studentinnen nach Deutschland zu locken, dann muss das doch irgendwie mit der Qualität unserer Hochschulen zusammenhängen.
Zum Wettbewerb zwischen Universitäten gehören auch Studiengebühren. Ich war vor kurzem an der London School of Economics und sollte dort einen Vortrag halten. Das habe ich auch gemacht, auf Englisch. Am Ende hat Anthony Giddens mich gefragt, ob ich denn bereit wäre, noch ein paar Fragen zu beantworten. Ich hab` gesagt: "Klar." Und dann kamen fünf, sechs Fragen in gestochenem Deutsch. Ich war begeistert von der Fähigkeit der Engländer, Deutsch zu sprechen. Ich habe Giddens dann gefragt: "Sagen Sie mal, wo lernen die denn alle das tolle Deutsch?" Sagt er:"¿Das sind alles Deutsche, Herr Henkel, die wollen alle einen exzellenten Abschluss machen."
Ja, meine Damen und Herren, wenn man sich überlegt, dass die Ausländer nicht zu uns kommen, obwohl die deutschen Universitäten nichts kosten, und die Deutschen immer mehr ihrer Kinder ins Ausland schicken, obwohl das Studieren im Ausland sehr viel kostet, dann muss das doch wohl einen Grund haben. Aber man kann in Deutschland die Sache nicht vorurteilsfrei diskutieren. Denn dann kommen die Sozialpäpste. Vorneweg unser damaliger Zukunftsminister Rüttgers. Den habe ich in einer Fernsehdiskussion mal gefragt: "Warum sind Sie denn gegen Studiengebühren?" Da sagt er wörtlich: "Ich bin gegen Studiengebühren, damit Kinder armer Eltern studieren können." Gegen so ein Argument kommen Sie nicht an - obwohl es Quatsch ist. Das ist das Dilemma in dieser Gesellschaft. Viele Politiker benutzen Argumente, manchmal oder oft auch wider besseres Wissen, weil sie in einem oder zwei Sätzen etwas ausdrücken können, was ankommt. Sie können in einem Satz die Studiengebühren vom Tisch wischen.
Dabei sind Studiengebühren sozial und die Abwesenheit von Studiengebühren ist unsozial. Das zu erklären, brauche ich aber ein bisschen länger als einen Satz. Frau Gerster würde mir in ihren Nachrichtensendungen, selbst wenn sie mich zuschalten würde, nie die Gelegenheit geben, den Millionen von Zuhörern mal zu erklären, warum Studiengebühren sozial sind. Aber da Sie, meine Damen und Herren, jetzt hier nicht weg können und Sie sich sicherlich auch oft mit ihren Bekannten darüber unterhalten, will ich es mal versuchen. So lange dauert es gar nicht.
Es gibt kein einziges Studiengebührenmodell in Deutschland, das nicht über Stipendien sicher stellt, dass begabte Kinder bedürftiger Eltern studieren können ¿das mal vorne weg. Ein Hochschulstudium ist die einzige Investition, die von der gesamten Bevölkerung getragen wird, von den Armen wie von den Reichen. Von der aber nur eine kleine Schicht profitiert, nämlich ungefähr 30 Prozent. Damit geht's schon mal los, ist das sozial? Seit wann ist das eigentlich sozial? Ausgerechnet die Leute, die dann, wenn sie fertig studiert haben nach wie gesagt 14,6 Semestern, die besseren Chancen haben, einen Job zu bekommen und die mit Sicherheit auch viel mehr verdienen. Ist es nun sozial, dass das durch die Allgemeinheit finanziert wird und nicht durch die, die davon profitieren? Eine absurde Geschichte. Tony Blair hat es als erster Premierminister in Großbritannien geschafft, Studiengebühren einzuführen mit der Begründung, dass das sozial sei. Wir hingegen kommen nicht voran, weil es immer wieder diese Totschlagargumente gibt, die Herr Rüttgers genau so vorbringt wie Frau Bulmahn.
Wenn wir was für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Bildungssystems tun müssen, dann müssen wir den Universitäten auch die Möglichkeit geben, im Wettbewerb was zu erreichen. Und das können sie nur, indem sie Studiengebühren nehmen. Der deutsche Student, der kein Geld hat, kann ja einen Gutschein bekommen, hab` ich vorher schon gesagt. Dann kann er sich die Hochschule aussuchen. Die Hochschule kann sich den Studenten aussuchen. Was meinen Sie, was dann passiert?
Bald gibt es sicherlich Spitzenuniversitäten, genau so wie in Amerika. Die haben wir heute noch nicht. Aber auch im Durchschnitt haben wir dann bald bessere Universitäten als heute, denn der Wettbewerb zwischen kleinen Einheiten, meine Damen und Herren, führt insgesamt zu höheren Leistungen. Das ist in der Wirtschaft nicht anders als in der Bildung. Der Wettbewerb zwischen Universitäten führt zu einem stärkeren Ganzen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Wettbewerb nicht bloß eine Sache der Wirtschaft ist. Jede Gesellschaft steht im Wettbewerb, genau so wie ein Unternehmen. Die Regeln des Wettbewerbs in der Wirtschaft gelten für Gesellschaften wie für ihre Teile. Wenn wir uns in Deutschland ein bisschen bewegen (was wir ja tun, ich will nicht sagen, dass wir still stehen, in einigen Bereichen marschieren wir allerdings auch zurück), aber die Konkurrenz schneller ist, dann fallen wir zurück. Ein Unternehmen kann sich das nicht leisten, das geht pleite. Ich meine, das kann sich auch eine Gesellschaft nicht leisten. Deshalb sage ich, dass wir eine wettbewerbsfähige Gesellschaft werden müssen, denn wir sind es nicht mehr. Dass wir es nicht mehr sind, das erzählen nicht unsere Politiker uns, sondern das erzählen uns Gott sei Dank Institutionen, die es inzwischen gibt.
Die Pisa-Studie wollten die Kultusminister unserer Länder nicht haben, meine Damen und Herren, sie haben sich die Untersuchung den Rachen runter würgen lassen, weil die Blamage, daran nicht teilzunehmen, dann doch zu gefährlich erschien. Aber nicht die Ergebnisse sind gefährlich, sondern der Zustand den sie beschreiben. Wenn sich heutige Schüler mit ihren Fähigkeiten ungefähr an 21. Stelle weltweit einreihen, dann müssen wir schon mal darüber nachdenken, was das für unsere Zukunft bedeutet. Denn wenn es stimmt, dass das, was unsere Kinder heute lernen, begreifen und können, entscheidend ist für die Zukunft unserer Gesellschaft, dann ist die nähere Zukunft, sagen wir die nächsten zehn, zwanzig Jahre, ziemlich im Eimer. Denn bevor Deutschland wieder nach vorne kommen kann, müssen wir eine andere Schülergeneration haben, die bei einem neuen Pisa-Test besser abschneidet als die derzeitige.
Man kann über das Thema sehr viel sagen. Meine Damen und Herren, lassen sie mich noch was berichten: Ich war vorhin auf dem Weg hierher in Essen, habe ein Leibniz-Institut besucht. Dort am Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI)beschäftigt man sich jetzt mit der empirischen Bildungsforschung und mit Pisa. Übrigens haben wir auch ein Leibniz-Institut in Kiel, das sich mit der Pädagogik der Naturwissenschaften beschäftigt und die nächste Pisa-Runde in Deutschland federführend koordiniert. Dank der Wissenschaftler in Kiel und Essen und anderswo lassen sich jetzt die Schulen in Nordrhein-Westfalen und Bayern miteinander vergleichen, und wir bekommen auch erklärt, was wir aus den Unterschieden zu lernen haben. Übrigens, Sie haben es ja mitgekriegt, hat die Kultusministerkonferenz zwischendurch versucht, den Ländervergleich zu verhindern mit der Begründung, dass die Anzahl der Fragebögen und der befragten Schüler und Schülerinnen nicht hoch genug sei.
Eine absurde Begründung war das. Luxemburg ist viel kleiner. Aber mit Luxemburg vergleichen wir uns, weil es eines der wenigen europäischen Länder ist, das schlechter abgeschnitten hat als wir. Inzwischen hat sich herausgestellt: Die Stichproben sind doch groß genug, die Länderresultate liegen vor. Was passiert, meine Damen und Herren? Der Wettbewerb geht los. Jetzt gibt es einen politischen Wettbewerb um die besten Rezepte. Und es passiert noch mehr. Jetzt werden die Fragen gestellt, die wirklich wichtig sind. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und der Qualität der Schule? es einen Zusammenhang zwischen der Homogenität oder Inhomogenität einer Klasse, also der Mischung guter und schlechter Schüler, und der Fähigkeit, gute Ergebnisse zu erzielen? Am RWI in Essen wird nach den Antworten gesucht. Und zwar nicht nur in den Pisa-Daten für Deutschland.
Wenn ich zum Thema Gleichheit vielleicht noch das Eine hinzufügen darf: Mir wird oft vorgehalten, dass ich beim Thema Armut übertreibe. Ich frage dann immer zurück: Kennen Sie eigentlich eine Gesellschaft, wo der Unterschied so gering ist zwischen Arm und Reich wie bei uns? Ich nicht. Wir sind eine ausgesprochene solidarische Gesellschaft und sollten uns nicht einreden lassen, dass wir unsolidarisch seien.
Ja, meine Damen und Herren, ich wollte über Freiheit und Wettbewerb sprechen. Lassen Sie mich vielleicht versuchen, die Gedanken dieses Vortrags in einem einzigen Satz zu bündeln. Wenn Sie den mitnehmen und darüber vielleicht noch mal nachdenken, dann hat sich mein Auftritt hier (jedenfalls aus meiner Sicht) gelohnt. Die deutsche Gesellschaft muss wettbewerbsfähiger werden und die Frage ist, wie wird man wettbewerbsfähig? Die Antwort ist ganz einfach: durch Wettbewerb.
Ich danke Ihnen.
*Hans-Olaf Henkel ist Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, zu der bundesweit 80 bedeutende Forschungsinstitute und Serviceeinrichtungen für die Forschung gehören. Zuvor stand der langjährige IBM-Manager sechs Jahre an der Spitze des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Henkel ist ein national und international gesuchter Meinungsmacher und Buchautor (zuletzt "Die Ethik des Erfolgs", 2002).