Prof. Dr. Traute Schroeder-Kurth
Glaube in der Wissensgesellschaft
Grenzen humangenetischen Wissens und Handels
Für die heutige Auseinandersetzung hätten die Organisatoren dieses Podiums keine bessere Wahl treffen können, als einen humangenetischen Beitrag zu fordern, - ist doch die Genetik mit ihren Fortschritten der Entzifferung des humanen genetischen Codes in aller Munde: 97% sei entschlüsselt, man staunt und merkt sich diese Zahl, baut sie gewissermassen in sein Wissen ein und verwendet sie, wo immer es sich anbietet. Man meint zu wissen, aber man kann dieses Wissen nicht verwenden. Fragt man die Genetiker, ob denn diese 97% Sequenzen zur Verfügung stehen, so wird freundlich gelächelt: etwa 67% seien in den Rechnern für Vergleiche zugänglich, allerdings bestünden noch Lücken.
Ich bin Fachärztin für Humangenetik, deshalb werde ich zunächst aus meinen Erfahrungen auf dem Gebiet der medizinischen Genetik berichten, um dann auf die Grenzen humangenetischer Forschungsbemühungen einzugehen, die in die Wissensgesellschaft noch eindringen müssen, bevor sie in Handlungen umgesetzt werden können. Zum Schluss erlaube ich mir, auf die Frage nach dem Glauben einzugehen.
1. Medizinische Genetik als ein Ort der Deutung von Wissen:
Ich will Ihnen als Einstieg in die Thematik aus der Praxis ein typisches Beispiel für die Unzulänglichkeit des Wissens in unserer Gesellschaft erzählen. Als ich noch am Institut für Humangenetik der Universität Heidelberg neben Lehre und Forschung auch für die genetische Beratung und Diagnostik, also die Krankenversorgung verantworlich war, habe ich diese Situation selbst erlebt.
Es meldete sich ein junges Paar zur genetischen Beratung an: Er ein Mathematiklehrer, 35 Jahre alt, sie - 30 Jahre alt - unterrichtete Deutsch und Leibesübungen, beide an der gleichen Oberschule. Die beiden waren einige Jahre verheiratet und erwarteten nun das sehr ersehnte erste Kind. Nach eigenen Angaben hatten sie sich noch nicht mit Einzelheiten der Schwangerschaft und Geburt auseinandergesetzt. Vielmehr fühlten sie sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass alles ganz einfach funktioniere und nach Wunsch verlaufe. Das hatte mit dem Absetzen der Pille zu tun und dem prompten Eintreten der Schwangerschaft. Jetzt aber wollten sie sich darüber orientieren, was alles zu bedenken und evtl. zu tun sei. Dazu gehöre nach ihrer Auffassung - und der ihrer besten Freunde - der Besuch in einer genetischen Beratungsstelle sowie die Anschaffung etlicher Bücher und Zeitschriften.
In der neuesten Ausgabe einer für Eltern zugeschnittenen Zeitschrift hatten sie am Wochenende gelesen, dass humangenetische Forschung nunmehr 400 Gen-Teste bereitgestellt hat, mit deren Hilfe man 400 unterschiedliche Erbkrankheiten diagnostizieren könne. Genau diese Hilfe wollten in Anspruch nehmen, um ganz sicher zu sein, dass sie ein "gesundes""Kind bekommen.
Damit war der Auftrag an mich klar formuliert: es ging um eine pränatale Diagnostik bei dem erwarteten Kind und zwar von 400 verschiedenen Erbkrankheiten.
Was war dem jungen Paar passiert: In einer besonders sensiblen Phase ihres Lebens - erste Schwangerschaft - erfahren sie durch eine Zeitschrift von den Errungenschaften der humangenetischen Wissenschaft, die ohne den Bezug zur Praxis beschrieben wurde. Jemand, der sich bis dahin überhaupt noch nicht mit Schwangerschaft, Erbkrankheiten und pränataler Diagnostik befasst hatte, musste durch den Artikel fehlgeleitet werden. Laien verstehen auf der Basis ihrer bisherigen Interessen, eines selektierten Wissens und ihrer bisherigen Erfahrungen nur das, was sie am meisten anspricht, hier: die Gesundheit des Kindes und ihre gemeinsame Zukunft.
In der genetischen und auch in der allgemeinen ärztlichen Beratung begegnet man regelmässig solchen Reaktionen auf Mitteilungen in den Medien. Meistens allerdings sind die Missverständnisse nicht so krass, wie in unserem Fall. Es stellte sich dann heraus, dass beide Partner keine genetischen Erkrankungen in ihren Familien kannten, so dass es keine abklärbaren Risiken gab. Sie haben verstanden, dass pränatale Diagnostik immer nur gezielt bei Verdacht auf eine bestimmte, in der Familie vorkommende Erbkrankheit durchgeführt werden kann. Meine Ratsuchenden hatten keine Indikation für eine der 400 spezifischen pränatalen Diagnosen.
Ihre Ängste liessen sich durch ruhige Aufklärung - in diesem Fall biomedizinischer Unterricht in Humangenetik und Statistik - abbauen. Selbstverständlich gehört auch die Vermittlung, dass jedes Kind ein sog. Basis-Risiko für nicht voraussehbare Krankheiten und Fehlbildungen hat, zur Beratung. Dieses Risiko wird von den meisten Mitbürgern als schicksalhaft verstanden und akzeptiert; nicht das "perfekte" Kind - wie es so häufig in den Medien heisst, wird gefordert, sondern es soll dem Durchschnitt entsprechen, unauffällig sein. Meine Ratsuchenden waren mit den Auskünften zufrieden. Die Aufklärung über humangenetisches Wissen und über das daraus rational abgeleitete Handeln reichten aus, um entstandene Ängste zu besiegen. Sie wollten nur die üblichen Vorsorge-Untersuchungen in Anspruch nehmen.
Zugegeben, die Umsetzung von Erkenntnissen, Ergebnissen und Wissen aus Forschung, Wissenschaft und Erfahrungen in ärztliches Handeln unterliegt keinen festen Regeln. Sie ist in grossem Masse abhängig von den Interpretationen, d.h. den Deutungen, die der Vermittler dem Patienten oder Ratsuchenden anbietet. Auch unter Medizinern findet man recht unterschiedliche Verarbeitung von Wissen: Eine Kinderärztin kam zur genetischen Beratung, weil sie eine Schwangerschaft plante und unter Ängsten zu leiden begann, weil sie in der Kinderklinik durch so viele kranke Kinder verschreckt war. Wissensvermittlung während Studium und Berufstätigkeit hatten nicht zu einer sicheren Einschätzung von Chancen und Risiken geführt, sondern hier trafen die gesammelten Informationen auf Lebensängste.
In unserem Arbeitskreis "Dimensionen der Heilung " in Heidelberg, haben wir Peter Hahn´s Buch "Ärztliche Propädeutik" bearbeitet (P. Hahn, 1988). Daraus ist diese Abbildung hervorgegangen, die Zusammenhänge zwischen der gewaltigen Ansammlung von Ergebnissen aus Wissenschaft, Forschung und Erfahrung einerseits, und andererseits Interpretation ausgewählter Ergebnisse und Nennung von ärztlich verantwortbaren Optionen für den Patienten erläutert. Je nach Vorbildung und Erfahrungen versteht der Laie seine Möglichkeiten, um gemeinsam mit dem Arzt zu handeln.
Auf welches Vorwissen oder welche Auffassung von Wissenschaft bzw. auf welches Muster von Verständnis und Offenheit heute, im Zeitalter der Informationsüberflutung, die mühevolle Interpretation fällt, ist bei jedem neuen Ratsuchenden/Patienten ein Sprung ins Unbekannte:
Unwissenschaftlichkeit, Vorwissenschaftlichkeit und Antiwissenschaftlichkeit sind weit verbreitet. Im Umgang mit Jedermann zeigt sich, dass rationales Denken, die Fähigkeit zur Kritik, die Einsicht, permanent zu prüfen, die Bereitschaft, das Erkannte zu verändern und die Vorläufigkeit von Erkenntnissen und Bewiesenem zu akzeptieren, - die Bereitschaft zur Wissenschaftlichkeit - , nicht so weit verbreitet sind, wie es eine "Wissensgesellschaft" verlangen würde.
Das gleiche gilt für die Wahrnehmung von ethischen Problemen und die Bereitschaft, sich der daraus erwachsenden Verantwortung zu stellen. Es wäre hilfreich, könnte man eine "Bürgerethik" erkennen (Schroeder-Kurth, 1996, J. Mittelstrass 1997)
Im Bereich des Gesundheitswesens und der Medizinischen Ethik sind Einflüsse aus unterschiedlichen Ebenen des menschlichen Umkreises bekannt, die auf den Einzelnen in der Bevölkerung einwirken und sich gegenseitig beeinflussen. Abb.2 ist in Zusammenarbeit mit D.Ritschl in der Vorlesung "Medizinische Ethik" in Heidelberg entstanden.
Hierbei wird verdeutlicht, dass im Nahbereich der Arzt-Patienten - Beziehung der Einfluss direkt durch Beratung mit Interpretation des Wissensstandes und unter dem Druck des Handelnmüssens erfolgt. Im Umfeld des Patienten wie des Arztes befinden sich einflussreiche Instrumentarien - die Familie und Freunde des Patienten, bzw. die Ärzteschaft - mit ihren Zwängen zur ständigen Anpassung an neue Situationen. Das gesamte Gesundheitssystem mit Versicherungen und Wissenschaft wirkt genauso auf die Erwartungen, Hoffnungen und Forderungen der Bevölkerung und des einzelnen Patienten ein, wie die originären Meinungsbildner, zu denen letzlich alle gehören: Eltern, Lehrer, Pfarrer, Politiker, Journalisten und nicht zuletzt die Fachleute, die sich in der Öffentlichkeit äussern. Man darf sich also nicht über die Vielschichtigkeit von Meinungen zu bestimmten aktuellen Themen der Zeit und über die Buntheit der "Wissensgesellschaft"wundern.
J. Mittelstrass (1997) hat es trefflich formuliert: Wir leben in einer Informationsgesellschaft, in der anstelle von Gebildeten, die noch Wissen und Meinung auseinanderzuhalten vermochten, Experten ihr Teilwissen über Ausschnitte von technischen Errungenschaften als mitteilungswerte Informationen preisgeben. Dass dies ein Erfolg des ungeheuren Zuwachses an Einzelwissen in Teilbereichen der gesamten Forschung ist, wird kaum noch wahrgenommen.
2. Verwendung von humangenetischem Wissen in der Medizin
Wie aber ist es mit den Fachleuten aus der Humangenetik auf aller Welt bestellt? Wie tragen sie zu der Wissensgesellschaft oder Informationsgesellschaft bei? Welche Aufgaben haben sie?
Zum Wissensstand hat Th. Cremer (2000) in eindrucksvoller Weise geschildert, dass der einzelne Humangenetiker diese Flut von neuen Forschungsergebnissen aus dem "Human Genome Project" bei ehrlicher Betrachtung kaum überblicken, geschweige denn die Entwicklungperspektiven der Humangenetik oder die Konsequenzen aus neuen technischen Möglichkeiten voraussehend erfassen kann. Beispielsweise können Humangenetiker technisch neue Methoden zur Identifizierung von spezifischen Gen-Defekten entwickeln und qualitativ absichern, aber sie können nicht mehr steuern, in welchen Teilbereichen der Medizin diese Methoden - ausser in der Humangenetik - angewendet werden oder welche Probleme sich bei Anwendungen z.B. in der Reproduktionsmedizin ergeben könnten.
Das heisst, die einzelnen Experten kennen sich nach wie vor in ihren speziellen Forschungsgebieten hervorragend aus. Hier konkurieren sie miteinander und kommen auch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Je weiter diese Forscher von der direkten persönlich zu veranwortenden Anwendung bei Patienten entfernt sind, um so phantasievoller scheinen sie mit den Möglichkeiten der Gentechnologie umzugehen (Th. Cremer, 2000). Es gibt auch erstaunliche Unterschiede zwischen den eher vorsichtigen europäischen Wissenschaftlern und ihren nordamerikanischen Kollegen, die mit weniger moralischen Bedenken kühn über zukünftige Vorteile spekulieren dürfen und auch bereit sind, die heute gesetzten Grenzen zu überschreiten ( T.Engelhardt, 1997)
Medizinische Genetiker sind für einzelne diagnostische Massnahmen und deren Interpretationen kompetent. Diese Spezifizierung spiegelt sich in den ständig komplettierten Listen über Möglichkeiten molekulargenetischer Diagnostik in Deutschland und den Nachbarländern (medgen 1998) wider. Heute sind Listen und Adressen ausländischer Laboratorien bekannt, in denen verantwortlich Diagnostik durchgeführt wird, die hier zu Lande nicht angeboten werden kann. Bücher, Internet und Computer-Programme mit übersichtlichen Darstellungen von Erbkrankheiten stehen zur Verfügung und helfen bei der genetischen Beratung. Kein medizinischer Genetiker kann alle genetischen Syndrome mit den Einzelheiten, die für eine sichere Zuordnung benötigt werden, im Kopf haben. So darf es auch nicht überraschen, wenn ein Kollege telefonisch um Hilfestellung bei einem medizinischen Genetiker anruft, sein Problem schildert und rasche Antwort erwartet, aber auf den Rückruf vertröstet wird, weil der Experte zunächst seine Computer-Technologie zur Suche benutzen muss. Auch das Angebot des Kollegen: - Ich schicke Ihnen 5 ml Blut des Patienten zur Genomanalyse - bleibt ohne Effekt. Es zeigt nur das ungeheure Vertrauen in die technischen Möglichkeiten, die durch unreflektierte Mitteilungen in Fachliteratur oder Medien hervorgerufen werden.
Die Umsetzungen solcher Erfolgsmeldungen aus der Gentechnik in Meinungen durch Reporter unterliegen genauso wie die überschäumenden Versprechen der Wissenschaftler den Zwängen des Erfolges und Geldes: Wissenschaftsreporter wollen glänzend dastehen, wählen nicht kontrollierbare Zukunftsträume oder angstbesetzte Reizthemen, und die Wissenschaftler müssen die Politiker von ihrem Konzept und den Aussichten auf Anwendbarkeit für die Medizin überzeugen, um Gelder für weiterführende Forschung zu erhalten (R.Balling et al, 2000, DFG, 2000, E.L. Winnacker, 2000,).
Zur Zeit sind heisse Diskussionen über die spekulativen Wissensgewinne aus der Forschung mit embryonalen Stammzellen und ihre vielversprechenden Anwendungen im therapeutischen Bereich auch in Deutschland entbrannt. Hierbei handelt es sich nicht um den eigentlichen Bereich der Gentechnik oder der Humangenetik, wohl aber werden diese neuen technischen Möglichkeiten der Stammzell-Zucht sofort mit den etablierten Methoden genetischer Manipulation verknüpft: Erkenntnisse aus dem "Human Genome Project" werden zur Verfügung stehen, um solche Zellen in der Petrischale so zu verändern, dass sie im fremden Organismus nicht abgestossen werden (J.A.Thomson et al. 1999) oder dass sie bestimmte Gene enthalten, um für somatische Gen-Therapie eingesetzt werden zu können (E.L. Winnacker, 2000).
In Deutschland verbietet das Embryonenschutz-Gesetz noch die Herstellung und Verwendung von menschlichen Embryonen zu anderen Zwecken als zur Initiierung einer Schwangerschaft der Frau, von der die Eizelle stammt. Aber ob diese Barriere angesichts der Verheissungen von Forschungs- und Anwendungsmöglichkeiten aufrecht erhalten werden kann, ist unvorhersehbar (T. Schroeder-Kurth, 2000a). Schon strömen Informationen aus England zu uns, die über eine kontrollierte und begrenzte Erlaubnis des "therapeutischen Klonens" berichten. Ziele sollen ausschliesslich klinische Anwendungen bei schweren Erkrankungen sein. Gegner fürchten mit Recht, dass sie diese Experimente auch den Weg zum "reproduktiven Klonen", also die Herstellung genetisch identischer Menschen, bahnen werden (BBC,16.8.00).
Ähnliche Verknüpfungen von humangenetischem Wissen und methodischem Knowhow der medizinisch molekulargenetischen Diagnostik mit der Reproduktionsmedizin führen direkt in die Fragen nach den Grenzen des Handelns: Die verführerische Präimplantationsdiagnostik (PID) wird von den Frauenärzten als dringend erforderliche technische Hilfeleistung bei familiären genetischen Belastungen vorgestellt, insbesondere um Schwangerschaftsabbrüche nach pränataler Diagnostik zu vermeiden. Wieder erweist sich das Embryonenschutz-Gesetz als eine noch wirksame Barriere, die Embryonen-Forschung und -Verbrauch verbietet. Alle Versuche, durch zweckdienliche Verleugnungen oder Umdeutungen die gesetzten Schranken einzuhalten und PID zu ermöglichen, sind halbherzige Scheinlösungen, die sich im Richtlinien-Entwurf der Bundesärztekammer und in der Stellungnahme der Bioethik-Kommission Rheinland -Pfalz niedergeschlagen haben, aber das Problem nicht lösen können. Wenn diese Diagnostik an invitro hergestellten Embryonen in Deutschland durchgeführt werden soll, muss das Embryonenschutz-Gesetz geändert werden (T.Schroeder-Kurth, 2000b).
Gesetze wie das Embryonenschutz-Gesetz sind die äussersten Mittel, um ärztliches Handeln zu regeln. Die Landes-Ärztekammern beschreiben in der Berufsordnung und in rechtlich bindenden Richtlinien die Rahmenbedingungen für den praktizierenden Arzt. Fachgesellschaften geben Leitlinien und Empfehlungen für bestimmte Massnahmen heraus und regeln dadurch wirksam Grenzen und Freiräume des Handelns. Der Bereich für Anwendungen der Gentechnik wächst rasant und eröffnet neue ethische Problemfelder, die nicht schnell genug durch solche Regelwerke zu beeinflussen sind:
Um einige zu nennen:
Wie kann man Datensicherheit trotz Computer-Vernetzung garantieren?
Wie kann man das Recht auf Nicht-Wissen durchsetzen?
Wie kann man vernünftig den Markt mit gentechnischen Tests regeln?
Wie soll man mit Versicherungen verfahren, die Gen-Teste für ihre Risiko-Berechnungen verwenden wollen?
Wer soll entscheiden, welche gesetzgeberischen Massnahmen erforderlich werden und wie setzt man sie durch?
3. Die Bedeutung von Forschungsergebnissen für die Wissensgesellschaft
Eine zentrale Aufgabe der humangenetischen Experten muss immer wieder die Standortsichtung der bisherigen Erkenntnisse in Bezug auf das Wissen über den Menschen sein. Untereinander und auch in der Öffentlichkeit müssen die Grenzen des Erkennbaren und der Mangel an Verständnis angesichts der Komplexität des Zusammenwirkens der Gene mit Umweltfaktoren und der Regulierungen durch epigenetische Phänomene dargestellt werden, die den Blick auf eine Gesamtschau versperren.
Die medizinisch überzeugende Therapie bei der erblichen Stoffwechselstörung Phenylketonurie, durch Phenylalaninarme Kost den Kindern eine normale Entwicklung zu ermöglichen, hat seinerzeit die Vorstellung von der deterministischen Wirkung der Gene nachhaltig begünstigt. Inzwischen sind ca. 7ooo sog. monogene Konditionen katalogisiert worden, die jede für sich selten sind und sich nach den Mendel´schen Regeln - dominant, recessiv oder geschlechtsgebunden - vererben. (V.McKusik, 1994). Die Suche nach einer festen Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp hat jahrzehntelang die klinischgenetische Forschung beflügelt. Heute wissen wir, dass eine solche enge Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp nicht die Regel ist. Auf Grund der molekulargenetischen Abklärungen von unterschiedlichen Gen-Defekten, die die gleiche Krankheit verursachen können und der exakten Beobachtungen von Betroffenen, die zwar die gleichen Gen-Defekte haben, aber die Krankheit unterschiedlich manifestieren, muss diese deterministische Idee aufgegeben werden (U.Wolf, 1997). Vielmehr muss gelehrt werden, dass die Auswirkung eines defekten Genes immer vom Kontext anderer Gene abhängt. Die weitaus grössere Anzahl von häufigen, sog. Volkskrankheiten sind multifaktoriell durch genetische Dispositionen und Umwelteinflüsse bedingt. Die Wirkungen einzelner Faktoren im Konzert der vernetzten Regulationsmechanismen werden nur unangemessen durch Hypothesen beschrieben. Auch die weitverbreiteten und offensichtlich verführerischen Darstellungen über die Steuerung von z.B. Intelligenz oder Alkoholismus durch einzelne Gene gehört zur Sensationshascherei und unwissenschaftlichen Reportage.
Der Mensch ist weder alleiniges Ergebnis von genetischer Steuerung durch sein Genom, noch wird er ausschliesslich durch Umweltfaktoren geprägt. Das Genom mit seinen Genprodukten und die Umwelt wirken von Befruchtung der Eizelle an auf die weiteren Entwicklungen ein und sind für die Strukturen und Funktionen des Organismus mitverantwortlich.
Der Versuch einer Standortsichtung humangenetischer Erkenntnisse in Bezug auf die Entwicklung des Menschen berücksichtigt nach Ph. Hefner, Theologe aus Berkeley (1993) die Mikro- und Makroebene der unbelebten Natur und des Kosmos als Ebene I.
Auf der Ebene (II) reichen die Kenntnisse der Molekulargenetiker heute aus, um eine wachsende Anzahl der humanen ca. 100 000 Gene zu identifizieren und ihre Bedeutung zu beschreiben. Nur 3% der gesamten DNS codieren Proteine und geben damit ihre Aufgaben preis; für 97% der DNS bleibt das Rätsel zu lösen, ob sie überhaupt eine Bedeutung haben.
In Zukunft werden Proteinchemiker die Unzahl an Proteinen analysieren, die ein Genom zu bilden im Stande ist. Man spricht von dem humanen "Proteom", der Gesamtheit aller Proteine, die im menschlichen Organismus zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Zelltypen gebraucht werden (III). Die neuen Disziplinen "Ökogenetik" und "Pharmakogenetik" signalisieren die Notwendigkeit von Untersuchungen über Zusammenhänge der genetischen Ausstattung des Einzelnen und seine individuelle, u.U. lebensbedrohliche Reaktion auf bestimmte Pharmaka oder Umweltfaktoren.
Weder mit der Sequenzierung des Genoms noch mit der Aufklärung aller Strukturen von codierten Proteinen werden die Wechselwirkungen unter Genen und Genprodukten ausreichend bekannt sein, die im Laufe der menschlichen Entwicklung, unter Mitwirkung von Umweltfaktoren, für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung (IV) sorgen. Es gibt heute keine umfassende Theorie über die Funktionen einzelner Zellen, ihre Signale innerhalb des Zellverbandes oder die Ausformung eines Menschen mit seinen Schwächen und Fähigkeiten (Th.Cremer, 2000).
Die schöpferischen Leistungen aller Menschen schliesslich lassen sich zusammenfassen in der Ebene V als Aufbau von Kultur- und Sozialstrukturen menschlicher Gesellschaften in der Geschichte, wobei naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle ganz und gar versagen.
Während die Ebene IV der Ort der subjektiven Denkvorgänge, -auch Welt II nach Popper (1995) -, ist, versteht die Ebene V , - Welt III nach Popper-, den Menschen als geistiges Wesen, das schöpferisch tätig ist und objektive, allen anderen vermittelbare und nachvollziehbare Leistungen vollbringt. Theorien und die Logik der Mathematik werden entwickelt, wissenschaftliche Probleme aufgegriffen, Kunstwerke, Poesie und Musik entstehen. Religiöses und philosophisches Denken wird möglich, Fragen nach dem Sinn des Lebens und Sterbens werden gestellt, nach Ethik und Verantwortung, nach Vergangenheit und Zukunft - alles Fragen, die mit den Mitteln der Naturwissenschaft und auf der Basis der Kenntnisse aus der Humangenetik nicht beantwortet werden können.
Der Biologe und Theologe J. Hübner (1997) hat dies etwa so formuliert: In den Naturwissenschaften gibt es keine Rede von Gott oder Gott wird genannt, wenn die "Prima Causa" gemeint ist. In Anbetracht der gewaltigen Erkenntnisse aus Kosmologie und Genetik mit der Übereinstimmungen von genetischen Informationen bei Pflanzen, Tier und Mensch, stellen die Naturwissenschaften zur Lösung religiöser Fragen - wie nach einem persönlichen Gott-Vater, - nach der Theodizee, - nach dem Leben nach dem physischen Tod, keine tauglichen Methoden zur Verfügung.
Theologie benutzt eine andere Sprache, um im gemeinsamen Dialog zu eruieren, was dem Leben des Einzelnen und dem kollektiven Ganzen dient. Zur Rede von Gott allerdings gehört eine innere Beteiligung, eine Offenheit für Fragen nach dem Woher - Wohin - Warum. Religiöses Denken, der Glaube und das Vertrauen in Gott ist in der Ebene V angesiedelt und kann sich nur auf der Basis funktionierender neurophysiologischer Strukturen entwickeln.
Die ständig wachsenden humangenetischen Erkenntnisse, die aus der Summe einzelner Experimente in die "Molekulare Medizin" (Ebene II, III und IV) als Wissen einfliessen sollen, müssen im Sinne eines umfassenden Verständnisses für die komplexen Interaktionen zwischen genetischer Information, Ausführung und Funktion von Körper und Geist begreifbar übersetzt werden. Ihr Wissen müssen die Experten mit der Gesellschaft teilen, bevor daraus Handlungen abgeleitet werden.
Dafür ist es allerdings notwendig, dass die weit verbreitete, simplifizierte Sichtweise des Determinismus, - auch mit Hilfe seriöser Wissenschaftsreporter-, überwunden wird, eine Sichtweise, die heute noch den Blick auf das Gesamt - Wunderwerk Mensch verstellt.