Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß
Das Verfügbar und das Unverfügbare
Vorbemerkung
Glaube ist in der Philosophie und für die Philosophie ein schwieriges Thema. Zum einen weil die Philosophie in ihrem griechischen Anfang ihr Wesen gerade im Gegensatz zu einem mythischen Denken gewann und in ihrer neuzeitlichen Entwicklung der Gegensatz zu einem nunmehr theologischen Denken maßgeblich blieb, zum anderen weil sich auf dem Boden einer selbstbewußten kritischen Rationalität, für die seither die Philosophie in allen ihren Teilen steht, nur schwer ein Platz für den Glauben finden läßt. Glaube und Ratio - das scheinen, auch und gerade in den Grenzen der Philosophie, unüberbrückbare Gegensätze zu sein. Deshalb definierte sich der Glaube in der abendländischen Tradition, z.B. in der die Unvernunft zum Prinzip erhebenden Formel 'credo quia absurdum', auch mit Vorliebe gegen die Ratio, gegen die Vernunft, oder verstand sich, in der Formel 'credo ut intelligam', als deren Voraussetzung; und die Vernunft definierte sich, z.B. in ihrer aufklärerischen Variante, mit Vorliebe gegen den Glauben. Der Glaube steht für die Philosophie eben paradigmatisch für das Verharren in einem mythischen Denken, die Vernunft für ein Denken, das sich vornehmlich über den Glauben definiert, paradigmatisch für das Verharren in einem bornierten, allzu selbstsicheren Denken.
Kein Wunder, daß es der Glaube in der Geschichte der Philosophie (ebenso wie die Vernunft in der Geschichte des religiösen und/oder theologischen Denkens) nicht leicht hatte. Und dies gilt auch heute noch, zumal in einer Welt, die mehr und mehr zum Werk des Menschen wird, und in einer Gesellschaft, die sich auf dem Wege zur Wissensgesellschaft sieht.
1. Leonardo-Welt
Wohin wir in der modernen Welt auch gehen, der analysierende, bauende, wirtschaftende und verwaltende Verstand war immer schon da. Und mehr noch. Der Mensch hat als homo faber seine und die Evolution seiner Welt in die eigene Hand, vor allem in seine wissenschaftliche und technische Hand genommen. Schon gewöhnen wir uns - Stichworte sind Gentechnik und Reproduktionsmedizin - an den Gedanken, daß sich die Natur des Menschen ebenso verändern läßt wie die physische und die gesellschaftliche Welt. Was immer wir tun, die Wissenschaft lenkt unsere Hand; was immer wir wissen, die Wissenschaft weiß es besser. Und unsere Welt ist Ausdruck dieses unbegrenzbar erscheinenden Könnens und Wissens. Eine solche Welt nenne ich nach einem der ersten der Modernen, dem genialen Wissenschaftler, Techniker und Künstler Leonardo da Vinci, die Leonardo-Welt.
Neuester Ausdruck dieser Welt, die sich auch durch eine eigentümliche Dialektik von Aneignung der Welt durch den Menschen und Aneignung des Menschen durch die angeeignete Welt beschreiben läßt, ist die Wissensgesellschaft. Darunter wird eine Gesellschaft verstanden, die ihre Entwicklung und damit ihre Zukunft auf die Leistungsfähigkeit des wissenschaftlichen und des technologischen Verstandes setzt und im Wissen ihre wesentliche Produktivkraft erkennt. Wissen erscheint hier als der Schlüssel, der alle Türen in die Zukunft öffnet, und zugleich als das unerschöpfliche Pfund, mit dem sich, wenn es um Macht, Reichtum und Einfluß geht, wuchern läßt. Ist die Wissensgesellschaft - ob schon wirkliche oder erst werdende - die Einlösung des alten Versprechens der Philosophie und der Aufklärung, den Menschen aus allen Abhängigkeiten, physischen wie psychischen und gesellschaftlichen, in eine lichte Welt der erfüllten Bedürfnisse, des Verstandes und der Vernunft zu führen?
Nur ein naiver Geist wird diese Frage heute mit Ja beantworten. Dagegen steht erstens der eigentümliche Umstand, daß ausgerechnet unter dem Signum einer Wissensgesellschaft der Begriff des Wissens unklar zu werden beginnt. So schieben sich die Begriffe der Information (und mit ihm der Informationsgesellschaft) und des Wissens (und mit ihm der Wissensgesellschaft) ineinander; der eine scheint wie der andere, Information gelegentlich schon der bessere Wissensbegriff zu sein. Dabei ist Information in Wahrheit nur die Form, in der sich das Wissen (und manches andere) transportabel macht. Oder anders ausgedrückt: Information setzt im wesentlichen Verarbeitungskompetenzen voraus, Wissen hingegen Wissensbildungskompetenzen. Wissen kann man sich nur als Wissender aneignen, Wissen heißt lehren können. Eben dieser Unterschied gerät ausgerechnet in einer Gesellschaft, die sich danach sehnt, eine Wissensgesellschaft zu werden, aus dem Blick. Und gegen ein naives Ja zur Allmacht einer Wissensgesellschaft steht zweitens der Umstand, daß der Wissensbegriff einer Wissensgesellschaft - einmal unterstellt, es gäbe die genannte Unklarheit nicht - der eines Verfügungswissens, d.h. eines positiven Wissens um Ursachen, Wirkungen und Mittel, ist, nicht der eines Orientierungswissens, d.h. eines normativen Wissens um (begründete) Ziele und Zwecke.
Die Stelle eines Orientierungswissens bleibt in der Wissensgesellschaft, wie sie heute verstanden wird, leer oder wird durch falsche Vorstellungen besetzt, etwa diejenige, daß eine weitere Zunahme des Verfügungswissens irgendwann auch die Probleme eines Orientierungswissens lösen bzw. auch dessen Funktionen wahrnehmen könne. Dies aber ist eine Illusion. Aus positivem Wissen wird kein normatives Wissen, weshalb auch eine informierte und wissensbasierte Gesellschaft noch keine orientierte Gesellschaft ist. Oder anders formuliert: Eine Informations- und Wissenswelt für sich genommen ist noch keine Orientierungswelt, auch wenn in einer Leonardo-Welt jede Orientierungswelt (zunehmend) Elemente des Wissens und der Information über Wissen enthalten muß. Das gleiche gilt für das individuelle Leben in einer Wissensgesellschaft. Und richtig ist auch, daß die Leonardo-Welt immer mehr weiß (und dieses Wissens zu kommunizieren versteht) und zugleich immer orientierungsschwächer wird. Schlägt also (eine weitere Frage) gerade in einer Wissenswelt bzw. in einer Wissensgesellschaft die Stunde des (orientierenden) Glaubens? Schließlich geht die Welt nicht ohne Rest in Wissen auf, und unser Leben schon gar nicht. Das lehrt auch die (philosophische) Anthropologie.
2. Vernünftiger Glaube
Für Immanuel Kant, der in den ausgearbeiteten Formen von theoretischer und praktischer Vernunft der werdenden Leonardo-Welt einen philosophischen Ausdruck ihres rationalen Wesens verschaffte, gehört zu den Bedingungen einer Beantwortung der anthropologischen Grundfrage 'was ist der Mensch?' neben einer Antwort auf die Fragen 'was kann ich wissen?' und 'was soll ich tun?' auch die Beantwortung der Fage 'was darf ich hoffen?' Damit ist auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß aus einem Wissen um das Wissen (und dessen Grenzen) und einer Normierung des Handelns (und deren Fundierung in einem kategorischen Imperativ) allein keine abschließende Bestimmung des Wesens des Menschen folgt. Zu diesem Wesen gehört vielmehr auch ein vernünftiger Umgang mit dem der theoretischen und der praktischen Vernunft zunächst nicht Zugänglichen, dem Wissen und dem Handeln in ihren üblichen Formen Unverfügbaren. Eben dies wird durch den Begriff der Hoffnung und den eines vernünftigen Glaubens ausgedrückt.
Unter einem vernünftigen Glauben versteht Kant - mal im Unterschied zu, mal in Übereinstimmung mit einem Vernunftglauben, der den entschiedenen Willen bezeichnet, Vernunft, und zwar eine begründeten Orientierungen verpflichtete Vernunft, in allen wissenschaftlichen und lebensweltlichen Verhältnissen, natürlich auch den philosophischen Verhältnissen selbst, durchzusetzen - einen Glauben, der das 'Wunder' eines 'Faktums der Vernunft' selbst betrifft. In Form eines moralischen Glaubens bewirkt der vernünftige Glaube, "daß ich dem sittlichen Gesetze in allen Stücken Folge leiste" . Zu einem derartigen Glauben bzw. zu einer von ihm getragenen 'moralischen Gewißheit' gehören nach Kant dann unter anderem die Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Postulate, nicht 'theoretische Dogmata', der praktischen Vernunft. Mit anderen Worten, für Kant besitzt ein vernünftiger bzw. moralischer Glaube noch eine konstitutive anthropologische Funktion, und dies an einer Stelle, die sich in der Ausbildung einer Leonardo-Welt und im Leben einer Leonardo-Welt als ein erhebliches Defizit herauszustellen beginnt, nämlich dort, wo es um die Grundlage und die Grenze eines im wesentlichen nur noch verfügenden Zugriffs auf die Welt und auf uns selbst geht.
Die moderne Anthropologie scheint dies aus dem Auge verloren zu haben, und zwar sowohl im Anschluß an Max Scheler, der an die traditionellen Bestimmungen des Menschen als animal rationale anknüpft , als auch im Anschluß an Helmuth Plessner, dessen Ausgangspunkt der Stand der wissenschaftlichen Forschung über den Menschen in allen disziplinären Aspekten, mit dem Ziel einer Strukturtheorie des Menschen, ist . Auch die moderne philosophische Anthropologie versteht sich zu Recht (innerhalb und außerhalb der Philosophie) als fundamental, zugleich in einer (Plessners Ansatz nahestehenden) integrativen, nämlich das, was andere (empirische) Disziplinen über den Menschen wissen, berücksichtigenden Sinne, aber sie teilt in einer gewissen Weise die für den Begriff der Wissensgesellschaft konstatierte Engführung des Wissens in Form eines Verfügungswissens. Hervorgehoben im Sinne einer anthropologischen Grundsituation wird zugleich die wesentliche Offenheit des Menschen (Friedrich Nietzsche: das "noch nicht festgestellte Tier" ) und ein damit verbundener weiter Horizont möglicher Selbstdeutungen des Menschen (Martin Heidegger: "dasjenige Wesen, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält" ). Eigentümlich unberührt bleibt dagegen die Frage nach einem gelingenden oder vernünftigen, im Sinne Kants von einem vernünftigen Glauben getragenen Leben. Nicht in allen Teilen, wie jetzt verdeutlicht werden soll.
3. Das Unverfügbare und die Gelassenheit
Eine Anthropologie, in der wieder - in Anknüpfung an eudaimonistische Konzeptionen im griechischen Denken, allerdings auch in einem bewußten Kontrast zur Ethikkonzeption Kants - der Begriff des gelingenden Lebens im Mittelpunkt steht, findet sich in den anthropologischen Reflexionen Wilhelm Kamlahs. Hier werden anthropologische Grundbegriffe wie Handlung, Widerfahrnis, Verhalten und Bedürfen nicht auf 'anthropologische Konstanten' (wie etwa bei Plessner) zurückgeführt, sondern auf der Basis einer Analyse lebensweltlicher Erfahrungsmomente mit dem Ziel eingeführt, individuelle Erfahrungen interpretierbar und individuelles Wollen formulierbar zu machen.
Kamlah sucht seine Konzeption dabei vor allem gegenüber derjenigen Arnold Gehlens abzusetzen, die den Menschen als Mängelwesen definiert, das aus Überlebensgründen zu einem Kulturwesen wird: "Diese Anthropologie verdeckt (...) bereits durch ihre Fragestellung, daß für den Menschen, indem er durch Sprache und Arbeit über das Nurlebende hinauswächst, das Lebenkönnen gerade aufhört, sich in der Selbsterhaltung zu erschöpfen." Mit der Formulierung einer praktischen Grundnorm ("Beachte, daß die Anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!" ) wird einer derart 'naturalistischen' Perspektive eine normative Perspektive entgegengesetzt, die in einem weiteren Schritt zu einer eudaimonistischen Perspektive erweitert wird. In dieser werden Konturen einer 'Lebenskunst' entworfen, die in der Überwindung einer vermeintlichen Eigenmächtigkeit des menschlichen Lebens und in der Ermöglichung eines Lebens in persönlicher Identität und handelnder Moralität, also eines gelingenden Lebens, bestehen soll. Insbesondere mit dem Begriff des Widerfahrnisses und der Formulierung der (eine handelnde Identitätsinterpretation fordernden) praktischen Grundnorm reformuliert Kamlah dabei sprachkritisch Elemente seines früheren Begriffs einer vernehmenden Vernunft, mit dem die Erkenntnis allgemeiner Bedürftigkeit und die Aufgabe der Philosophie als ars vitae zum Ausdruck gebracht wird, und eröffnet damit methodisch die Möglichkeit einer im engeren Sinne philosophischen Anthropologie als Alternative zu historischen und naturalistischen Verständnissen von Anthropologie.
Hier werden neben der Erfahrung des Widerfahrnisses, in der sich auch eine Wahrnehmung des Unverfügbaren ausdrückt, auch Erfahrungen des Loslassens, die mit einer beanspruchten anthropologischen Eigenmächtigkeit kontrastieren, wiederentdeckt. Im Anschluß an ein Rilke-Zitat ("Eins muß er wieder können: fallen, geduldig in der Schwere ruhn" ) heißt es: "wahres Leben können ist in der Tat zu allererst 'fallen können', sich loslassen können, 'ruhen können', Wer sich fallen läßt - im Sinne dieser Metapher -, eben der macht die unerwartete Erfahrung, daß er nicht ins Leere fällt, sondern im Ruhen-können das Leben-können erst eigentlich gewinnt. (...) Am Handeln-können gemessen ist das Können des Loslassens (...) ein paradoxes Können, ein nichtkönnendes Können sozusagen, was in dem passivischen Wort 'Gelöstheit' triftig zum Ausdruck kommt." Das Ziel ist eine 'wissende Gelöstheit' oder eine 'philosophische Gelassenheit'.
Gelassenheit ist auch das Stichwort einer weiteren Konzeption, in der der Begriff der Unverfügbarkeit (der Welt und des eigenen Lebens) in den anthropologischen Mittelpunkt rückt. Gelassenheit dabei verstanden als die philosophische Antwort auf die Frage nach einem vernünftigen Umgang mit dem Unverfügbaren, zugleich als Antwort der Philosophie auf die Endlichkeit allen Wissens und das Angebot des Glaubens in dieser Situation. Nach Friedrich Kambartel, der diese Antwort auf eine eindrucksvolle Weise vertritt, besteht diese Gelassenheit darin, "nicht nach der Verfügung über das für uns Unverfügbare zu streben und im unenttäuschbaren Vertrauen darauf zu leben, daß der uns unverfügbare Gang der Ereignisse den Sinn eines vernünftigen Lebens nicht berührt" . Auch Kambartel bezieht sich dabei auf die anthropologischen Formeln Kants, die nicht mehr mit einer religiösen Antwort im klassischen Sinne rechnen, und die Konzeption eines vernünftigen Glaubens, mit der Kant die Frage nach dem, was wir hoffen dürfen, beantwortet. Und auch die Konzeptionen Heideggers zur Wirksamkeit einer Geworfenheit (in Heideggers Terminologie: der Geworfenheit des Daseins in sein Da) und Kamlahs Überlegungen zum Begriff des Widerfahrnisses sind hier aufgehoben. Die Wirklichkeit, so Kambartel, "von der unser Handeln jeweils seinen Ausgang nimmt, ist stets unverfügbar so, wie sie ist" . Das heißt, der Mensch hat niemals alle Bedingungen seines Handelns in der Hand, nicht einmal die Faktizität, die sein Leben, seine Gegenwart - mit allen seinen Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen - ausmacht. Die Leonardo-Welt durchdringt zwar auch die individuelle Existenz, sie gehört zu den Bedingungen, unter denen der einzelne lebt, doch bedeutet auch das nicht, daß sich das Unverfügbare in Verfügbares, eben Machbares, auflöst. An die Stelle eines naturhaft empfundenen und gedeuteten Bedingungsgefüges ist lediglich (partiell) ein artifizielles Gefüge getreten. Die Grundsituation des einzelnen hat sich damit nicht verändert.
In diesem Zusammenhang muß ein Unterschied zwischen einer absoluten und einer kontingent gegebenen Unverfügbarkeit gemacht werden. Während eine absolut gegebene Unverfügbarkeit eben den Umstand bedeutet, daß eine gegebene Wirklichkeit zugleich die Grenze einer (auch nur theoretisch vorstellbaren) absoluten Verfügbarkeit darstellt, bestehen kontingent gegebene Unverfügbarkeiten in der Abhängigkeit allen menschlichen Handelns, auch des zweckrationalen Handelns, von selbst nicht herstellbaren Bedingungen seines Gelingens. Auch eine zweckrational geplante Handlungsstruktur ist davon abhängig, daß eine gegebene Wirklichkeit 'mitspielt', das als Verfügbarkeit Geplante sich nicht einer in der Planung liegenden Rationalität entzieht. Das (der Intention und der Konstruktion nach) Verfügbare verhält sich in diesem Falle wie etwas Unverfügbares, der geplante Handlungszusammenhang kommt nicht zustande. Zudem tragen sich auch zweckrationale Handlungszusammenhänge nicht selbst, in Kambartels Terminologie: ein Vorbereitungshandeln, das stets die Herstellung einer vernünftigen Gemeinsamkeit betrifft, in der ein zweckrationales Handeln seine Wirksamkeit entfalten kann, ist selbst nicht zweckrational begründbar; es gründet vielmehr in einem gemeinsamen Willen, der sich als vernünftiger Wille zu erkennen gibt. Dieser Wille wiederum ist ebenso wie ein vernünftiges Handeln, das aus ihm folgt, "unüberbietbar auf Hoffnung gestellt" . Eben dies ist auch der Punkt, an dem Kants Begriff des vernünftigen Glaubens ansetzt. Dieser bildet die Grundlage aller Moral. Er ist verfügbar in dem Sinne, daß er tatsächlich moralische Überzeugungen ('moralische Gewißheit') trägt, unverfügbar in dem Sinne, daß er nicht selbst auf den Wegen und mit den Mitteln zweckrationalen Handelns herstellbar ist. Zugleich legt sich der Schatten der Unverfügbarkeit über das auch in einem vernünftigen Glauben wurzelnde Handeln, wenn dieses sich so versteht, daß sein Gelingen über die Vernunft eines Vorbereitungshandelns (dem Gegebensein eines vernünftigen Willens) hinaus selbst 'erzwingbar' ist.
Dies ist auch der Punkt, an dem Kambartels Begriff der Gelassenheit einsetzt: "Vernunft wird (...) gelassen dadurch, daß sie sich auf das hin orientiert, was, indem wir es tun, bereits gelungen und insofern unenttäuschbar ist, auf das je gegenwärtig mögliche vernünftige Handeln." Das vernünftige Leben, das einem vernünftigen Glauben folgt, ist insofern immer das Leben 'in der Gegenwart'. nicht das sich seiner Zukunft sichere Leben. Kambartel verweist hier auf klassische Positionen wie die Ethik des Aristoteles, in der derjenige vernünftig handelt, der in seinem Handeln - ganz gleich, wie es um dessen Erfolgsaussichten bestellt ist - einer ethisch bestimmten Klugheit folgt, oder das Handeln desjenigen, 'der Gott vertraut' und insofern zwar (in einem konkreten Handlungskontext) enttäuscht, nicht aber in seinem das eigene Leben tragenden Glauben erschüttert werden kann. Gelassen ist in diesem Sinne ein Leben, das in seinem gelingenden Charakter nicht von dem Gelingen seines Zukünftiges (in einem zweckrationalen Sinne) intendierenden Handelns ist, oder, wiederum in den Worten Kambartels, "in dem wir unsere Handlungen, insbesondere die Handlungen, die wir vorbereitet haben, tun, ohne dazu einer besonderen inneren Übergangshandlung zu bedürfen" . Fazit: "In einer gelassenen Praxis sind wir der unendlichen vergeblichen Anstrengung enthoben, über die unabänderlichen Bedingungen unseres Lebens (Handelns), über die anderen und über uns selbst zu verfügen."
Verfügen - das ist das geheime Stichwort einer Leonardo-Welt, allerdings einer unvollständigen bzw. ihre wesentliche Unvollkommenheit mit sich führenden. Alles Verfügen gründet, wie dargelegt, in einem Unverfügbaren, ohne daß damit zugleich die Vergeblichkeit aller Vernunft in ihrem Ziel, das Leben zu tragen, konstatiert werden müßte. Es ist zwar richtig, daß man sich nicht, wie Baron Münchhausen, am eigenen Schopf, hier einer verfügenden Rationalität, aus dem Sumpf oder anderen Mißlichkeiten ziehen kann, doch das bedeutet nicht, daß es keine vernünftigen Wege, d.h. nur unvernünftige, mythische, eben im traditionellen Sinne religiöse Wege, zu einem gelingenden Leben gäbe. Die Alternative zu einer Leonardo-Welt ist nicht wieder eine mythische Welt, sondern eine Welt, in der der Glaube selbst vernünftige, dann auch eine Leonardo-Welt allererst orientierende Züge annimmt.
Was hier wie eine Paradoxie anmutet, ein vernünftiger Glaube, ist denn auch in Wahrheit Ausdruck einer zu sich selbst gekommenen, einer sich von den eigenen metaphysischen Fallstricken befreienden Vernunft. Damit ist sowohl die Vorstellung gemeint, daß alles Rationale sein Fundament im Irrationalen habe, als auch die Vorstellung, daß sich das Rationale, nunmehr als Zweckrationalität aufgefaßt, selbst begründen könne. Es ist eine Einsicht der Vernunft, nicht ein Versagen der Vernunft, die zu einem vernünftigen Glauben führt - auch in einer Leonardo-Welt, die auf die Macht des Verfügens setzt und dabei zu vergessen droht, daß das Verfügen einer Orientierung bedarf, die nicht selbst wieder ein Verfügen ist. Die von Kambartel dargelegte Haltung der Gelassenheit ist eine solche Orientierung und zugleich Grundlage aller Orientierungen, die ein vernünftiges Leben und am Ende auch die (in einem tieferen Sinne wieder unverfügbare) Zukunft einer Leonardo-Welt ausmachen.